Der Deutschafrikaner Harry Sarfo hat sein Zuhause in Bremen verlassen und ist nach Syrien, in die vom IS besetzten Gebiete aufgebrochen. Er hat geglaubt, einem Aufruf Gottes zu folgen. In einem Interview mit der Zeitung „The New York Times“ berichtet er über seine Erfahrungen im Kalifat. Ursprünglich erschienen auf de.sputniknews.com
Der junge Jihadist schien im Islamischen Staat nicht willkommen zu sein. Maskierte Männer erklärten dem jungen Deutschen nach seiner Ankunft, dass es im Gottesstaat genügend Kämpfer gebe. Akuter Kräftemangel herrsche hingegen in Europa.
Er bringe mehr Nutzen, wenn er in seine europäische Heimat zurückkehre und dort einen Terror-Untergrund organisiere, haben sie Harry zu verstehen gegeben.
Die Männer mit Sturmhauben waren Vertreter des IS-Geheimdienstes „Emni“. Innerhalb des Islamischen Staates erfüllt er Polizei- und Aufklärungsfunktionen. Zudem verantwortet der Geheimdienst den Terror-Export nach Europa. Emni ist hierarchisch organisiert. An seiner Spitze steht Abu Mohammad al-Adnani. Dieser leitet nicht nur den Geheimdienst, sondern ist auch der zentrale IS-Ideologe. Seine Unterstellten planen Anschläge in der ganzen Welt. Die potentiellen Attentäter suchen sie nach der Staatsangehörigkeit und Sprache aus, um sie dann zu Gruppen zusammenzustellen, deren Mitglieder sich erst kurz vor der Entsendung zum Anschlagsort kennenlernen. Emni verschickt die Terror-Trupps weltweit: nach Deutschland, Österreich, Spanien, Nordafrika und Asien.
Anwerbung von Rekruten
Nach der Ankunft im Islamischen Staat werden die Rekruten in Wohnheimen an der türkischen Grenze untergebracht, wie Sarfo berichtet. Dort werden ihre Daten erfasst. Von Harry wurden Fingerabdrücke und Blutproben genommen. Nach einer ärztlichen Untersuchung musste der Neuankömmling zu einem persönlichen Gespräch. Ein Mann mit Laptop, wie Sarfo ihn beschreibt, stellte ihm ganz gewöhnliche Fragen: „Wie ich heiße, woher meine Mutter stammt, welchen Abschluss, welche Ziele ich habe, was ich werden will“, erinnert sich der frühere Terrorist.
Auch sein Hintergrund und seine Vergangenheit interessierten den IS. Laut dem Terrorabwehr-Koordinator des Bremer Innensenats, Daniel Heinke, besuchte Harry Sarfo regelmäßig eine als radikal eingestufte Bremer Moschee, die bereits 20 Kämpfer zum IS entsandte, mindestens vier von ihnen kamen bereits ums Leben. Außerdem hat Harry eine einjährige Haft wegen Diebstahls von 23.000 Euro aus einem Supermarkt-Tresor hinter sich.
Auch wenn der Islamische Staat Diebstahl mit Handabhacken bestraft, kann eine kriminelle Vergangenheit für die Rekruten ein Pluspunkt sein. „Ganz besonders, wenn du Verbindungen zu organisierter Kriminalität hast und gefälschte Pässe besorgen kannst. Oder du hast einen Verbindungsmann in Europa, der dich durchschleusen kann“, erklärt Sarfo.
Nachdem alle notwendigen Formalitäten erledigt waren, kamen Emni-Mitarbeiter zu Harry. „Sie sagten, dass ihnen in Deutschland Leute fehlen, die den Job erledigen wollen“, erinnert er sich. „Sie hatten Männer, die sich bereiterklärt haben, Terroranschläge zu verüben. Doch sie kriegten kalte Füße und sprangen einer nach dem anderen ab. Dasselbe auch in England“, so Sarfo.
Die Emni-Mitarbeiter hätten zahlreiche Schläfer-Zellen in ganz Europa etabliert. „Sie dienen als Koordinierungszentren, von denen aus Befehle an die Selbstmordattentäter ausgehen, die von islamistischer Propaganda verblendet sind“, so Sarfo.
Training
Die Islamisten raten den Ausländern, die sich dem IS anschließen wollen, ihre Reise in den Gottesstaat als Urlaub im Süden der Türkei zu tarnen. Der zukünftige IS-Kämpfer bucht ein All-Inklusive-Hotel samt Rückflug und wird direkt aus dem Hotelzimmer nach Syrien geschleust.
Für die Emni-Anwerber war Harry dadurch interessant, dass er neben Deutsch auch Englisch beherrscht. Der IS-Geheimdienst versuchte mehrmals, Sorfo zu einer Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Doch vergeblich: Der junge Mann wollte kämpfen.
Letztlich wurde Sarfo – wohl wegen seines Körperbaus (bei einer Körpergröße von 1,85 Meter wog er damals 129 Kilogramm) – in die Spezialeinheit „quwat khas“ versetzt. Diese Einheit nahm nur Unverheiratete auf, die versprachen, bis zum Abschluss des Trainings keine Ehe einzugehen. Quwat khas ist die Speerspitze des IS bei Offensiven gegen Städte und Siedlungen. Zudem stellt die Sondereinheit die Reserve für den Geheimdienst.
Sarfo wurde mit einem weiteren deutschen Staatsangehörigen in der Wüste bei Rakkaausgesetzt. „Sie schmissen uns einfach aus dem Auto und sagten ‚Wir sind da‘. Wir standen mitten in der Wüste und versuchten zu verstehen, was passiert“, erzählt Sarfo. „Erst auf den zweiten Blick erkannten wir die vielen Ritzen und Höllen, die so getarnt waren, dass die Flugdrohnen sie nicht entdecken konnten.“
„Waschen war verboten, Essen war verboten, bis es ausdrücklich erlaubt wurde“, beschreibt Sarfo das Trainingslager. „Auf ein Erdloch, in dem sechs Menschen hausten, kamen zwei Gläser Wasser pro Tag. Sie wurden vor dem Eingang abgestellt, um zu sehen, wer es aushält, wer die Kraft hat.“
Die Trainings waren erschöpfend: Die Rekruten mussten stundenlang laufen, springen, Liegestütze machen, klettern, kriechen. Einige wurden bewusstlos. Wer es nicht aushielt, mit dem kannte man kein Pardon. „Einer, der vor Erschöpfung nicht mehr aufstehen wollte, wurde an einem Pfahl an Beinen und Armen festgebunden“, berichtet Sorfo.
In der zweiten Woche erhielt jeder eine Kalaschnikow. „Man hat uns befohlen, sie nie aus den Augen zu lassen. Unsere Waffe sollte für uns wie ein dritter Arm sein“, so der ehemalige IS-Rekrut.
Das Vorbereitungsprogramm der Sondereinheit besteht aus zehn Stufen. Nachdem Sorfo die zweite Stufe erfolgreich absolviert hatte, wurde er in ein Lager auf einer Insel in der Rabqa-Mündung versetzt. Dort musste er in einem Erdloch unter Zweigen und Blättern schlafen. Die Rekruten lernten schwimmen, tauchen und sich nach den Sternen zu orientieren.
Eines Tages baten andere Kämpfer aus Deutschland Sorfo, in einem kurzen deutschsprachigen Propagandavideo aufzutreten. Sie fuhren nach Palmyra, wo Harry mit der schwarzen IS-Flagge immer und immer wieder vor der Kamera marschieren musste. Danach stellten die IS-Kämpfer gefangene syrische Soldaten auf die Knie und erschossen sie. Einer der Terroristen fragte Sorfo nach der Hinrichtung, ob er gut ausgesehen habe, als er die Soldaten erschoss.
„Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Erste Zweifel kamen mir während des Trainings, als ich gesehen habe, mit welcher Grausamkeit Männer behandelt wurden, die die Belastung nicht aushielten“, erinnert sich Harry. „Am meisten aber hat mich das Video enttäuscht, die vielen Aufnahmeversuche. Ich kam nach Syrien, weil ich von so einem Video beeinflusst war. Ich dachte, es war echt und nicht gestellt“, sagt er.
Letztlich ist Harry geflohen. Mehrere Wochen lang musste er sich durch das IS-Gebiet durchschlagen, bis er endlich die türkische Grenze überquerte. Am 20. Juli 2015 ist er am Bremer Flughafen festgenommen worden. Er hat seine Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung gestanden und büßt inzwischen eine dreijährige Haftstrafe im Bremer Hochsicherheitsgefängnis ab.