Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler wurde einmal gefragt, was uns der Erste Weltkrieg lehre. Er meinte, dass zum einen die Ideologie ein Irrglauben war, nach der gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung vor Kriegen oder gar Weltkriegen bewahre. Sie sei auch damals vertreten worden. Zum zweiten ist er der Ansicht, dass Wertegemeinschaften immer Opfer geopolitischer Achsen würden. Geopolitik siege letztlich immer über Werte. So seien das demokratische Frankreich und Großbritannien mit dem autoritären Russland im ersten Weltkrieg eine Allianz eingegangen. Laut Werte-These habe sich aber eigentlich Frankreich und Großbritannien gegen das autoritäre Deutschland und Rußland verbünden müssen. Später paktierte beispielsweise die Roosevelt-USA mit der Stalin-SU, die USA während des Kalten Krieges mit den Muslimbrüdern gegen die Panarabisten. Wie Geopolitik Werte aussticht, sehen wir auch heute im Bezug auf die Erdogantürkei und Saudiarabien. Beide werden trotz arachischer Herrschaftssysteme noch als Verbündete des Westens betrachtet und man veruscht, sie solange wie möglich zu halten, damit sie nicht zur Gegenseite wechseln.
Die dritte Lehre wird von Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat formuliert: Gäbe es keine Atomwaffen, hätte der Syrien- und Ukrainekonflikt schon längst einen dritten Weltkrieg entfacht. Aber auch hier ist nicht sicher, ob die Massenvernichtungswaffen eine mittel- und langfristige Garantie gegen einen Weltkrieg sind, wenn man sich die neuen Studien des Center for Strategic Budgetary Assessment (CSBA) „Rethinking Armageddon“ und „Why Airseabattle?”, wie auch die neue RANDstudie „War with China: Thinkling through the Unthinkable“ liest, in dem diese Prämisse infrage gestellt wird. Hier ein Lesetip.
Wenn alle Seiten glauben, die andere werde nicht eskalieren, ergibt sich eine gefährliche Eskalationslogik. Der Glaube, es könne gar nicht zum Weltkrieg kommen, macht diesen vielleicht erst möglich. Besonders wenn auch alle Seiten der Ansicht sind, selbst ein Weltkrieg würde nicht den Weltuntergang oder Massenvernichtung bedeuten.
In einem Interview, das Korrespondent Robert Scheer für die Los Angeles Times mit George Bush senior führte, lautete eine Frage: Erreicht man mit diesen strategischen Atomwaffen nicht einen Punkt, wo wir uns gegenseitig so oft vernichten können, … daß es wirklich keine Rolle mehr spielt, ob man zehn oder zwei Prozent drunter liegt oder drüber? Bush senior antwortete darauf: Ja, wenn sie glauben, daß es in einem nuklearen Schlagabtausch nicht so etwas wie einen Sieger gibt, dann macht das Argument Sinn. Ich glaube das nicht. Scheer: Wie gewinnt man einen nuklearen Schlagabtausch? Bush senior: Man hat eine Überlebensfähigkeit der Kommando- und Kontrollstrukturen, Überlebensfähigkeit von Industriepotential, Schutz eines Prozentsatzes der Bürger, und man ist in der Lage, dem Gegner mehr Schaden zuzufügen, als der einem zufügen kann. Auf diese Weise kann es einen Sieger geben.
So sprach nicht Putin, sondern Bush senior, Ex-CIA-Chef, Vizepräsident unter Reagan und dann selbst US-Präsident. Bush senior machte diese freudigen Atomkriegsvisionen im Interview mit dem Korrespondenten Robert Scheer in der Los Angeles Times vom 24.1.1980. Bush gilt und galt als „moderater Republikaner“, als „berechenbarer Gemäßigter“ und „Realpolitiker“. Ganz anders als Trump. Bush senior mag zwar einige Zeit zurückliegen, ist aber vielleicht doch kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen, angesichts der Möglichkeit, dass Donbald Trump Commander in Chief über die US-Atomwaffenarsenale werden könnte.
Auch in Europa werden Kriege für begrenzbar und führbar gehalten
Ähnliches wie bei Airland Battle bei der Sowjetunion erhoffen sich nun auch die US-Strategen des Airsea Battle gegenüber China und dem Iran. Gegenüber Russland ist die US-Strategie noch etwas zurückhaltender, da dieses über ein wesentlich grösseres Atomwaffenarsenal als China verfügt. Aber der US-NATO-Kommandeur Breedlove hält folgendes Szenario für möglich: „Zudem brauche die Nato ausreichend Kapazität, um nötigenfalls die „Festung Kaliningrad“ zu durchbrechen. Schließlich hätte eine Studie der Rand-Corporation, für die Breedlove höchste Töne der Wertschätzung fand, kürzlich herausgefunden, dass die Russen in 60 Stunden das Baltikum einnehmen könnten. So schnell könne die Nato nicht einmal „piep“ sagen, Abschreckung sei daher nötig. Denn das Baltikum sei der verwundbarste Punkt in der Nato.(…)Da nützt es nichts, dass die Russen behaupten, sie würden die Nato nicht angreifen wollen. General Breedlove will vorsorgen, Kaliningrad notfalls überrennen, und was dann käme, das mag man sich gar nicht vorstellen.“
Naja, so schwer ist sich die Denke nicht auszumalen. Wenn Putin das Baltikum besetzt, besetzt die NATO eben das russische Kaliningrad. Dann steht Russland vor der Option gegen die NATO Krieg zu führen und vielleicht einen Atomkrieg loszubrechen oder aber einzulenken und ein Tauschgeschäft einzugehen. Ähnlich stellen sich dies US-Strategen auch gegenüber China vor. Jedenfalls grundsätzlich hat sich gegenüber den 90er Jahren geändert, dass Kriege in Europa und Asien wieder auch gegen und zwischen Großmächten für begrenzbar, führbar und gewinnbar gehalten werden und eine Eskalation tendenziell ausgeschlossen wird. Aber in diesen ganzen Szenarien scheint die Cyberwarkriegsführung, die Weltraumkriegsführung und deren Eskalationspotentiale noch ausgeblendet, die ja eben nicht nur ein klassisch-konventionelles territoriales Schlachtfeld Europa oder Pazifik darstellen. Möglicherweise hält man auch diese für begrenzbar, führbar und gewinnbar. Auch ein Krieg in Kroea wird inzwischen als transregionaler Krieg gedacht, bei dem die USA, Russland und China hineingezogen werden könnten.
DIe strategischen US-Planungen für ein zweites nukleares Zeitalter treten in eine neue Phase. Ein sehr grundlegendes Papier hierzu ist “Rethinking Armageddon” vom Center for Strategic Budget Assesment, das auch schon das grundlegende Papier „Why Airseabattle?” herausgab. Kurz: Das zweite oder dritte Nuklearzeitalter ist viel instabiler und unberechenbarer als das erste nukleare Zeitalter des Kalten Krieges und jede Krise kann sich viel schneller und exzessiver auswachsen als eine Kubakrise.
Ralf Ostner, 51, Diplompolitologe, Open-Source-Analyst, arbeitet als Übersetzer für Englisch und Chinesisch. Mehr vom Autor finden Sie hier