Original Veröffentlicht von Dominic H – www.domiholblog.tumblr.com
Dominic H – 30-08-2016
Sultan
«Sultan Erdogan beginnt seinen Rachefeldzug», wetterte am 17. Juli 2016 das deutsche Magazin ‹Stern› zu den Auswirkungen des gescheiterten Putschversuchs in der Türkei. Mit Gusto wird nun schon seit einiger Zeit der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in westlichen Medien als autokratischer Herrscher beschrieben und entsprechend durch den Kakao gezogen. Wäre der Putsch erfolgreich gewesen, hätte diese Dämonisierung es für westliche Politiker innenpolitisch völlig unproblematisch gemacht, die Solidarisierung mit dem gestürzten türkischen Staatschef zu vermeiden.
Bemerkenswerter war die Reaktion des Westens: Während des Putschversuchs trat kein westlicher Führer vor die Kameras und erklärte sich solidarisch mit der gewählten Regierung und dem türkischen Volk; kein hochrangiger Vertreter der westlichen Wertegesellschaft erklärte die Putschisten in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli als Verbrecher; und keine parlamentarische Delegation aus dem Westen reiste nach Niederschlagung der Putschisten nach Ankara um das beschossene Parlament zu besuchen. Statt dessen arbeiten Qualitätsjournalisten zum Thema Türkei weiterhin entspannt mit orientalistischen Zuspitzungen und rassistischen Klischees und wie kein anderer ausländischer Staatsmann steht Erdoğan in der Presse auch von türkischen Partnerstaaten im NATO-Militärbündnis unter medialem Dauerbeschuss.
Die Flexibilität zum Kursschwenk, welche die Machtfülle eines orientalischen Despoten, also eines «Sultans» bietet, könnte für Syrien jedoch zum Vorteil gereichen. Denn angeblich steht man kurz vor einer Sicherheits-Vereinbarung, welche auch zu einer politischen Verständigung führen könnte. So zumindest sieht es der Journalist Mohammad Ballout am 29. August in einem Artikel der libanesischen Zeitung ‹As-Safir›. Die Zeitung hat gute Kontakte zur syrischen Führung und wird daher von westlichen Beobachtern eher nicht ernst genommen.
Sicherheit
Schon am 22. August berichtete Ballout, dass ein ungenannter Vertreter von Hakan Fidan, Chef des türkischen Geheimdienstes ‹MİT›, einen Tag zuvor Damaskus besucht habe um dort hochrangige syrische Sicherheits-Beamte zu treffen. «Entwicklungen im nördlichen Syrien» habe man besprochen. Im Klartext also die militärischen Erfolge des von den Vereinigen Staaten unterstützten Markenzeichens ‹SDF› (Syrische Demokratische Kräfte). Was sich hinter diesem wohlklingenden Etikett allerdings verbirgt, ist nun mal der Buhmann der Türkei: Kurden der ‹PKK› (Arbeiterpartei Kurdistans). Diese führt seit 1984 (mit der kurzen Unterbrechung eines eher von türkischer Seite her abgebrochenen Friedensprozesses) den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat – ihre Heimat. Als syrischer Vertreter der PKK gilt die ‹PYD› (Partei der Demokratischen Union) und deren bewaffneter Arm ‹YPG› (Volksverteidigungseinheiten). Gemäss eigener und auch von West-Medien massiv unterstützter Propaganda soll SDF eine «multiethnische Militärallianz» von Arabern, Assyrern und Turkmenen sein. Für Ankara ist es einfach nur eine terroristische Tarnorganisation. Tatsächlich stellt YPG deutlich die Mehrheit der Kämpfer.
Gegen Ende Mai hatte der US-amerikanische Vier-Sterne-General und Vorsitzende von ‹CENTCOM› (US-Zentralkommando), Joseph Votel, kurdische Kämpfer in Syrien besucht. Kurz danach schoss ein Fotograf der Nachrichtenagentur ‹AFP› (Agence France-Presse) Bilder von Spezialeinheiten der US-Armee auf syrischem Staatsgebiet. Die USA unterhalten Medienberichten zufolge mit Erlaubnis der Kurden-Milizen bereits drei völkerrechtlich allerdings eindeutig illegale Militärbasen in Nordsyrien. Die US-amerikanische Tageszeitung ‹Washington Post› identifizierte den Ort, an dem sich die abgelichteten Soldaten aufhielten, als ein Dorf nördlich von Rakka, der inoffiziellen Hauptstadt der Terrormiliz ‹ISIS› (Islamischer Staat) – dem aktuellen Buhmann des Westens. Auch Kämpfer von YPG erklärten, dass diese Männer in ihren Reihen US-Elitesoldaten wären. Der Blog ‹Checkpoint› der US-Zeitung ‹Washington Post› bestätigte zudem, dass es sich bei dem vom AFP-Fotografen ebenfalls abgelichteten Militärgerät um genau die Art von Waffen handeln würde, welche US-Spezialkommandos verwenden.
Das Bemerkenswerteste an den AFP-Bildern jedoch war, dass die Männer der US-Armee hier anscheinend Abzeichen einer Kurden-Miliz tragen – amüsanterweise jedoch das Logo von ‹YPJ› (Frauenverteidigungseinheiten) also der YPG-Frauenkampfverbände. Der Pressesprecher des ‹Pentagon› (US-Verteidigungsministerium) Peter Cook verteidigte gegenüber Reportern diese eingebettet agierenden US-Truppen: «Ja, unsere Spezialeinheiten haben auch in der Vergangenheit Abzeichen und Identifizierungen ihrer Partnereinheiten getragen», erklärte Cook aber lehnte es ab, in die Details zu gehen. «Beratung und Unterstützung» wäre ihre Aufgabe.
Seit dem Auftauchen der Fotos hat Ankara die Beziehungen zum NATO-Partner über dem Atlantik öffentlich hinterfragt. Der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu fand das Verhalten «unangemessen». «Es ist inakzeptabel, dass US-Soldaten das Emblem einer Terrororganisation tragen», meinte er und fügte hinzu, dass die US-Truppen ebenso gut das Logo von Al-Kaida tragen könnten oder das Emblem von Boko Haram nutzen, falls sie nach Afrika gehen. Der stellvertretende türkische Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmuş bemerkte, dass er nicht glaube die USA könnten so ihre gegenwärtige Politik in Syrien fortführen, da es den Beziehungen zur Türkei empfindlichen Schaden zufügen werde.
Die Türkei besitzt das zweitgrösste stehende Heer im westlichen Militärbündnis und sitzt in einer geostrategisch wichtigen Position. Bereits im Februar stellte Erdoğan seinen US-amerikanischen NATO-Partner die Wahl sich zwischen der Türkei und «Terroristen» zu entscheiden. «Sind es wir, die eure Partner sind, oder die Terroristen aus Kobane [YPG]?» fragte er. Um die USA davon abzubringen, mit der Gruppierung weiter zusammenzuarbeiten, schlug Ankara vor, dass arabische Kämpfer mit türkischen und US-amerikanischen Spezialeinheiten gegen ISIS vorgehen könnten. «Wenn wir unsere Kräfte zusammentun – die USA haben ihre Spezialeinheiten und wir unsere – dann sollte eine zweite Front eröffnet werden, aber ohne die YPG», erklärte Çavuşoğlu.
Der türkische Aussenminister warf YPG auch «ethnische Säuberungen» vor. Ganz unrecht hat er damit wohl nicht. Andersdenkende Kurden, Turkmenen, Araber, assyrische Christen – die Gruppe ist nicht immer beliebt in ihren sogenannten «Kurdengebieten». Auch die im Westen respektierte Nichtregierungsorganisation ‹Amnesty› hat die Aktivitäten der Miliz diesbezüglich sogar schon als «Kriegsverbrechen» beschrieben. Çavuşoğlu warf YPG insbesondere vor, die Rückkehr geflüchteter arabischer Bewohner in kürzlich von ISIS eroberten Gebieten verhindern zu wollen.
Am 27. Mai gab das US-Aussenministerium erstmals zu, dass es eine Verbindung zwischen der als terroristisch betrachteten PKK und der syrischen YPG geben könnte. «Ich kann nicht kategorisch sagen, dass es da nicht, Sie wissen, keinerlei Verbindungen gäbe», stotterte Sprecher Mark Toner in einer Pressekonferenz. Die USA würden beide Gruppen allerdings immer noch als «getrennte Einheiten» wahrnehmen und weiterhin empfehlen, YPG in Operationen gegen ISIS im Norsyrien zu unterstützen. Toners Äusserung kam einen Tag, nachdem die peinlichen AFP-Bilder aufgetaucht waren.
In der Türkei wächst seit dem Putschversuch des 15. Juli die anti-amerikanische Stimmung. Türken sehen die USA als Komplizen der Putschisten. Kein Wunder: Washington hat bis jetzt eher unwillig auf Ankaras Forderung reagiert, den als Drahtzieher beschuldigten Prediger Fethullah Gülen auszuliefern. Der US-Vizepräsident Joe Biden sollte die Wogen bei seinem Besuch vom 24. August glätten. Biden kommt bezüglich Erdoğan allerdings mit Gepäck. «Die Türken sind gute Freunde … die Saudis, die Emiratis usw. … Sie haben Hunderte von Millionen Dollar und zig Tausend Tonnen Kriegsmaterial jedem hingeworfen …. Nur dass diese Leute, die bewaffnet wurden, zu … Al-Kaida gehören ….» So wetterte Biden bei einer Fragestunde Mitte November 2015 mit Studenten der US-Eliteuniversität ‹Harvard›. Diesmal musste Biden katzbuckeln und sein Land rhetorisch auf die Seite der Türkei stellen und zwar rückhaltlos. Die Kurden müssten sich auf die Ostseite des Euphrat zurückziehen, oder sie würden die Unterstützung der USA verlieren, donnerte er folgerichtig.
Haben die Kurden jetzt wirklich den Washingtoner Dauerkrieger als Freund verloren? Es ist kaum glaubwürdig, dass die Türkei nichts von einer bis hin zur Entsendung von Elite-Soldaten ausgeweiteten Hilfe des Pentagon für YPG gewusst hätte. Die öffentliche Empörung war eine Reaktion auf öffentliche Bilder. Ankara könnte aber sehr wohl die Präsenz von YPG östlich des Euphrats akzeptiert haben. Schliesslich unterstützt die türkische Luftwaffenbasis İncirlik die US-Luftwaffe zugunsten von YPG. Sowohl Erdoğan als auch sein damaliger Premier Ahmet Davutoğlu hatten wiederholt das Überschreiten des Euphrat durch YPG als «rote Linie» bezeichnet. Die USA schienen auf dem türkischen Ohr taub und auch sonst die Sache nicht ganz durchdacht zu haben. Die meisten der US-gestützten arabischen Freischärler weiter westlich in Azaz sind YPG feindlich gesinnt. Selbst wenn ihre Waffen von den USA gestiftet sind, hören diese Truppen auf die Türkei. Eine USA-feindliche Position dieser Milizen war garantiert, je mehr die als Mogelpackung erkannte SDF über den Euphrat hinaus vordrang. Ein kurdischer Spruch sagt: «Die Berge sind unsere einzigen Freunde.» Interessant, wie sich YPG – trotz eines öffentlichen Freundschafts-Entzugs – weiterhin an die Wünsche des Washingtoner Marionettenspielers hält.
Fallengelassen als Freunde fühlte sich kürzlich auch die syrische Exil-Opposition. Am 20. August, überraschte der türkische Premier Binali Yıldırım mit der Erklärung, dass der syrische Präsident, Dr. Bashar Hafez al-Assad, eine Rolle in einer «Übergangsregierung» spielen könne. Dies stellte eine Umkehr der türkischen Position dar. Yıldırım machte zugleich nochmals deutlich, dass sein Land die Präsenz von YPG entlang der Grenze seines Landes zu Syrien nicht akzeptieren werde. Bereits im April 2016 hatte die algerische Zeitung ‹El-Watan› auf der Basis von «diplomatischen Quellen» online berichtet, dass Algerien Vermittlungs-Gespräche zwischen Ankara und Damaskus gehalten hatte und es dabei um die als «föderale Region» ausgerufenen Kurden-Gebiete ging. In seiner kürzlich gehaltenen Rede im grenznahen Gaziantep sprach Erdoğan nicht mehr über sein syrisches Gegenstück, sondern nur noch über die PKK: «Unser Ziel in Syrien ist es sie zu entwurzeln.»
Vieles, was Ballouts Artikel beschreibt, macht Sinn, wenn man es im Lichte der kürzlich von der Türkei öffentlich ausgedrückten neuen Freundlichkeit gegenüber Russland und dem Iran betrachtet. (Beide Länder haben sich stark auf Seite der rechtmässigen syrischen Regierung engagiert, während Ankara bis zum heutigen Tag den bewaffneten Aufstand tatkräftig unterstützt.) Auf Rat von Russland und dem Iran hatte demnach die Türkei die syrische Regierung bereits am 16. August über einen in einer Woche statt findenden Einmarsch informiert. Um die Details auszubügeln traf man sich angeblich mehrmals und zwar in Baghdad, Damaskus, Moskau und Istanbul.
Gemäss «zuverlässiger arabischer Quellen» soll am 25. August in Baghdad ein Treffen zwischen einer von MİT-Chef Fidan geführten Delegation, dem irakischen Militär-Geheimdienst und drei hochrangigen syrischen Geheimdienstlern statt gefunden haben. Damit wäre auch der Überraschungsbesuch des syrischen Aussenministers Walid Mohi Edine al-Muallem erklärt. Dieser nahm zwar angeblich nicht an den Gesprächen teil, gab aber der wahren Mission der ihn begleitenden Geheimdienstler die nötige Deckung. Auch wiederum gemäss dieser «arabischen Quellen», waren die Teilnehmer zufrieden mit dem Resultat der Gespräche und drückten Hoffnung auf zukünftige Kooperation bezüglich der PKK und ihrer Aktivitäten in Syrien aus. Nach den meiner Meinung aus Washington angestachelten (weil es sonst keinen Sinn ergibt) Angriffen von YPG-Einheiten vom 17. August auf syrische Loyalsten und Regierungstruppen in Hasakah, definierte die syrische Regierung YPG als Terror-Organisation. Das kam in Ankara sicher gut an.
Am Anfang der Bagdad-Gespräche soll die türkische Delegation von der syrischen Seite Informationen erbeten haben, was mit sieben türkischen Offizieren geschehen sein könnte, die mit syrischen Freischärlern gekämpft hatten und zu denen die Türkei im Februar 2015 den Kontakt verloren hatte. Die Syrer sollen den türkischen Geheimdienstler ein Dossier über vier türkische Offiziere präsentiert haben, welche in Aleppo lebend gefasst wurden. Angeblich wurde beiden Seiten von höchster Stelle aufgetragen sich offen auszutauschen. Die syrische Delegation konnte gemäss dieser Berichte zurückmelden, dass die Türken bereit wären, so bald wie möglich ein «Geschäft» mit Syrien zu machen.
Am 4. September soll ein weiteres Treffen in Damaskus statt finden. Dort soll angeblich auch eine Delegation des Iran zusammen mit Türkei, Irak und Syrien über die Lage diskutieren. Wie Mitte August deutlich wurde, hatten sich Teheran und Ankara bereits auf «vorläufige, grundsätzliche Prinzipien zur Lösung des Syrien-Konflikts» geeinigt. So berichtete es Premier Yıldırım seinem Parlament und so wurde es auch von einem Beamten des iranischen Aussenministeriums am 16. August bestätigt. Ali Mamlouk, Sicherheits-Berater des syrischen Präsidenten, wird am 6. September in Moskau erwartet. Man darf annehmen, dass es bei diesem Treffen um eine Kurzeinweisung in das Resultat des erwähnten Vierer-Gesprächs geht. Auch zwischen dem russischen und türkischen Sicherheits-Apparat sollen baldige Gespräche geplant sein.
Gemäss «informierten arabischen Quellen» sollen Ankara und Damaskus also einen Tauschhandel gemacht haben: Syrien definiert weiterhin die bewaffneten kurdischen Fraktionen im nördlichen Syrien als Terror-Gruppen und beendet die Bewaffnung und Unterstützung kurdischer Fraktionen in Afrin und jeglicher Gruppen, die mit der PKK kooperieren. Im Austausch dafür verspricht die Türkei das Ende der Unterstützung bewaffneter Fraktionen, welche die syrische Armee in Aleppo angreifen und die Schliessung der Grenze für Dschihadisten.
Auf der Ebene der Internationalen Syrien-Gruppe und der vom UN-Sicherheitsrat angenommenen Dokumente ist die Aufgabe zur Abgrenzung der Terroristen von den Oppositionellen noch nicht gelöst. In der Vergangenheit hatte sich die türkische Regierung dagegen gesträubt bei der Zusammenstellung einer Liste von syrischen Terroristen-Gruppen zu helfen. Die Liste war eine der Aufgaben, welche das Königreich Jordanien nach der Genfer Konferenz vom November 2015 übernommen hatte – ohne die Hilfe des mächtigen Nachbarn jedoch noch nicht erfüllen konnte. Als Teil der von «arabischen Quellen» beschriebenen geheimen Vereinbarungen habe sich Ankara nun bereit erklärt darauf einzugehen und die Nennung terroristischer Gruppen mit der Sicht Russlands zu harmonisieren. Ein weiteres Resultat der Verhandlungen sei auch eine Lösung zur Frage der Überwachung der Grenzübergänge gewesen. Demnach würde die Türkei russischen Einheiten eine Aufsichts-Rolle erlauben.
Im Herbst 1998 standen die Türkei und Syrien kurz vor einem Krieg. Damaskus hatte bis dahin die PKK unterstützt und ihrem Führer Abdullah Öcalan Zuflucht geboten. Es wäre ein «unerklärter Krieg» meinte der damalige türkische Generalstabschef. Die Türkei drohte mit der «Intervention». Die Drohung wurde von den Syrern ernst genommen und man traf sich unter Vermittlung Ägyptens und Irans schliesslich im türkischen Adana. Als Ergebnis der Verhandlungen verpflichtete sich Damaskus der PKK keinerlei Unterstützung mehr zukommen zu lassen. Der erste Artikel der Adana-Vereinbarung verpflichtet Syrien auf seinem Territorium keinerlei Taten zuzulassen, welche die Sicherheit und Stabilität der Türkei gefährden könnten. Im zweiten Artikel definierte Syrien die PKK als terroristische Organisation. Damaskus muss sich nur wieder an dieses Abkommen halten und im Gegenzug kann Ankara dazu beitragen, dass der Abkommens-Partner dies auch praktisch durchsetzen kann, indem es die syrische Staatsgewalt nicht mehr über die Unterstützung von Freischärlern und Putschisten untergraben hilft. Putsch – das musste der Sultan erst kürzlich selbst erfahren – schwächt nämlich einen Staat.
Schild
An sich schon eine Zäsurer ist der vom NATO-Mitglied Türkei mit «Schild des Euphrat» benannte militärische Einmarsch in Nordsyrien vom 24. August. Für Amerikaner und Europäer allerdings hat sich weit mehr verändert: Das Bekenntniss «Assad muss weg» ist vom Tisch und so auch die Mantra «Es gibt keine militärische Lösung». Die gibt es. Die Proteste aus Damaskus, Moskau und Teheran gegen die «Intervention» waren eher verhalten. Das syrische Aussenministerium hatte logischerweise am 29. August in zwei getrennten Schreiben an den Generalsekretär der Vereinten Nationen und an den Vorsitzenden des Weltsicherheitsrats die anhaltenden türkischen Angriffe verurteilt. Die Verletzung der Souveränität Syriens sei ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Am gleichen Tag erklärte Kurtulmuş, dass «jede Partei, welche involviert sei» – einschliesslich Damaskus – sich der Operation «bewusst gewesen» wäre. Russland habe wohl die syrische Regierung informiert, meinte er. Es gibt also leider keine öffentliche Stellungnahme, die wirklich auf eine Vereinbarung schliessen lässt. Auch der russische UNO-Botschafter Vitaly Churkin antwortete am 30. August, dass Russland der Türkei kein «grünes Licht» gegeben habe. Die russische Luftwaffe hat allerdings den türkischen Einmarsch bisher nicht behindert und die offizielle Reaktion aus Moskau beschränkte sich auf «tiefe Besorgnis».
Wer aber jetzt gleich an ein abgekartetes Spiel glaubt, das gegen die Interessen der USA geht, erhält zum Beispiel von einem Journalisten der türkischen Tageszeitung ‹Hürriyet› eine andere Sicht: Mehmet Yılmaz glaubt nämlich, dass es die USA waren, welche die Türkei in einen unglücklichen Krieg gezogen haben. Bilder von Truppen der ‹FSA› (Freie Syrische Armee) mit Flipflops gaben ihm keine Hoffnung, dass diese Truppen ISIS besiegen könnten und er meinte: «Es scheint, die Vereinigten Staaten begreifen, dass auch YPG-PKK nicht im Stande sind ISIS zu zerstören und wollten dass das einzige weitere stehende Heer in der Region [Iran wäre das andere] sich in dieser Sache involviert.» Seiner Meinung würde dies die Ansichten vieler Türken widerspiegeln. «Wir stecken jetzt bis zum Hals im syrischen Sumpf und es ist nicht ersichtlich, wann wir da rauskommen oder wie viele unserer Bürger leiden werden», meinte Yılmaz und fügte hinzu, dass es für die US-Amerikaner mit dem Ziehen der «Kurden-Karte» ein Kinderspiel gewesen sei, die Türkei da reinzuziehen. So gesehen, kommt einem natürlich die Verschwörungstheorie auf, dass ein von den USA befohlener Vormarsch von YPG/SDF nur dazu diente um eine Reaktion der Türkei zu provozieren.
Journalisten, die mit Führern der von der Türkei mitgeschleppten syrischen Freischärler sprechen, hören jedenfalls wenig über ISIS. Diese Milizen haben vor allem den Auftrag, die Kurden jenseits des Ostufers des Euphrats zu halten. «Sollten die Kurden das nicht tun, werden wir sie bekämpfen», erklärte auch der «Stabschef» der FSA, Albey Ahmed Berri und jubelte: «Dafür ist uns militärische Unterstützung der USA und der Koalition versprochen worden.» Gemäss dem türkischen Aussenminister Çavuşoğlu ist der Fall klar: YPG müsse sich «so schnell wie möglich» an das Ostufer des Euphrats zurückzuziehen. «So lange sie das nicht machen, stellen sie für uns ein Ziel dar», versprach er.
Für die Obama-Administration und die Merkel-Regierung stand allerdings offiziell der türkische Militäreinsatz in Syrien im Einklang mit der «Koalition» gegen ISIS. Die Kurden müssen sich auf Druck der USA zurückziehen und die Türkei handele im Einklang mit den Zielen und Absichten der internationalen Koalition gegen den «Islamischen Staat», jubelte zum Beispiel ein Sprecher des deutschen Aussenministeriums ‹Auswärtiges Amt›. Man müsse jedoch mit Bedauern feststellen, dass immer noch nicht allen Kriegsparteien in Syrien und auch nicht allen beteiligten ausländischen Mächten klar sei, «dass es einfach keine militärische Lösung geben kann», meinte er. Ja, ja – der übliche Gandhi-Modus am Ende jeder Syrien-Stellungnahme. Die Scheinheiligkeit des Westens kulminierte dann auch noch mit relativ verhaltenen Protesten gegen Angriffe der türkisch unterstützten Freischärler auf US-amerikanisch unterstützte YPG-Freischärler. Den schärfsten Ton stimmte das Pentagon an und bezeichnete die Kämpfe der beiden bisher gehätschelten Stellvertreter als «inakzeptabel».
Am 30. August führte ISIS einen kleinen Angriff auf türkischen Truppen und ihre syrischen Mitkämpfer durch. Die Türken forderten von den USA aufgrund einer verbindlichen Vereinbarung Luftunterstützung gegen die Terror-Miliz. Angeblich soll die US-Luftwaffe das Hilfegesuch der Türken ignoriert haben. Die Türken mussten eigene Jets einsetzen. «Die Amerikaner … kamen nicht. Aufgrund der Versprechen der Amerikaner wäre die türkische Luftwaffe fast zu spät gekommen und wir hätten schwere Verluste hinnehmen müssen», zitiert der katarische Nachrichtensender ‹Al-Jazeera› das Schimpfen eines FSA-Sprechers. Die US-Zeitung ‹Wall Street Journal› hatte allerdings bereits zuvor berichtet, dass US-Regierungsvertreter der Türkei am 29. August mitgeteilt hatten, den aktuell in Syrien eingesetzten Truppen keine Luftunterstützung zu geben, falls diese südwärts marschieren.
Schutz
Dass ein im Artikel von Ballout angesprochener Tauschhandel «Kurden für Aleppo» tatsächlich bestehen könnte, dazu gibt es verlockend plausible Hinweise. Mit der vom türkischen Militär unterstützten Eroberung von Jarabulus zog die Türkei nämlich Milizen, welche sie in Syrien kontrolliert, aus Kämpfen in anderen Gebieten ab. Rund 2’000 Kämpfer sollen in den Tagen vor dem Einmarsch sogar in türkischen Kasernen ausgerüstet und eingeschworen worden sein.
Offiziell spricht Ankara davon, mit dem Freischärler-Markenzeichen FSA zu kooperieren. In Jarabulus waren offensichtlich folgende syrische Milizen als Partner des NATO-Staats Türkei aktiv: ‹Jabhat al-Shamiya›, ‹Harakat Nour al-Din al-Zenki›, ‹Ahrar ash-Scham›, ‹Faylaq ash-Sham›, ‹Liwa al-Moutasem› und ‹Furqat al-Hamza›. Von diesen sechs Gruppen kann man die vier ersten eindeutig dem islamistischen Spektrum zuschreiben. Ahrar ash-Scham beispielsweise wurde 2011 von einem Al-Kaida-Repräsentanten mitbegründet und plant aktuell einen Zusammenschluss mit der vom UNO-Weltsicherheitsrat unverändert als syrischer Al-Kaida-Ableger definierten Terrormiliz ‹Jabhat Fateh al-Sham›. Harakat Nour al-Din al-Zenki wiederum war erst im Juli in die Schlagzeilen gekommen, weil sie einem zwölfjährigen Jungen vor laufender Kamera mit einem Messer lebend den Kopf abgeschnitten hatten. Sowohl Ahrar ash-Scham, als auch Faylaq ash-Sham gelten als dem MİT besonders nahe.
Man kann argumentieren, dass bereits ein Schritt gemacht wurde, welcher die syrischen Regierungsgegner gespalten hat. Tausende der Türkei hörige Freischärler an Kriegsschauplätzen in Aleppo und Idlib folgten der Aufforderung zum Schild des Euphrat zu werden. So auch Ankaras Mann in Idlib, Jamal Maarouf, der mit seiner Miliz ‹Jabhat Thowar Suriyya› stattliche 4’000 Kämpfer befehligt. ‹Division 13› und die ‹Turkmen Brigaden› (Gruppen aktiv an der türkisch-syrischen Grenze – speziell im nördlichen Lattakia) folgten ebenfalls dem Ruf des Sultans. Auf dem so wichtigen Schlachtfeld um Aleppo sind allerdings noch genug Milizen zurückgeblieben. So zum Beispiel das Bündnis ‹Jaysh al-Fatah›, ‹Jaysh al-Mujahideen› oder ‹Jaysh al-Islami al-Turkistani›.
Ein bisschen sieht es derzeit so aus, als ob die Türkei ausgewählte Schützlinge in einer «Schutzzone» sammelt. Die Türkei verlangt ja schon seit Längerem die Einrichtung von «Zonen» – allerdings unter humanitären Vorwänden. Mitte Februar hatten wir den letzten Versuch diese Idee der Weltöffentlichkeit schmackhaft zu machen, als der türkische Aussenminister Çavuşoğlu erklärte, dass sein Land «Schutzzonen für Flüchtlinge» auf der syrischen Seite der Grenze errichten wolle. Angebliche Interventionspläne wies er damals zurück. Die Zone sollte auf syrischer Seite ein Gebiet von zehn Kilometer entlang der Grenze umfassen – einschliesslich der Stadt Azaz. So erklärte es jedenfalls der damalige stellvertretende Ministerpräsident Yalçın Akdoğan dem türkischen Fernsehsender ‹A Haber›. Die Anfang Februar in der Türkei weilende deutsche Kanzlerin Angela Merkel jubelte, dass sie die Bemühungen von Ankara zum Unterhalt von «Flüchtlingslagern» auf syrischem Territorium unterstützen wolle. Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt in der Türkei bereits militärische Luftaufklärungseinheiten und sein Einverständnis für die Unterstützung der von den USA angeführten Koalitionskräfte bei möglichen Bodeneinsätzen in Syrien geäussert.
Vom «Führer der freien Welt» Barack Hussein Obama II bis hin zu «Sultan» Erdoğan I der Türkei, hat noch jeder Politiker der internationalen Kontaktgruppe «Freunde des syrischen Volkes» die Grenzen des syrischen Staats als Konstante nach erfolgreichem Regierungssturz versprochen. Aber Jugoslawien zeigt nun mal, was man machen muss, wenn man einen schwierigen Staat auf Dauer eliminieren will. Eine Schutzzone voll kampferprobter, Türkei-höriger syrischer Regierungsgegner? Sie wären eine Garantie gegen die Bildung eines zusammenhängenden Kurden-Protostaats, aber zugleich könnten sich Syrische Oppositions-Politiker dort installieren und damit die Realität einer staatlichen Abspaltung herbeiführen, falls sich in Damaskus keine ihnen freundlich gesonnene Regierung finden sollte. Haben die Kurden auf der anderen Seite des Euphrat auch schon feste Versprechungen aus Washington mit einem Augenzwinkern aus Ankara erhalten? Entsprechend brav haben sie jedenfalls bisher Obamas Messer im Rücken hingenommen.
Eine nagende Frage zu Ballouts Artikel über einen angeblichen Handel bleibt: Könnte sich die Türkei denn so einfach mit Russland, Iran und Syrien arrangieren, ohne ein OK aus Washington? Der Besuch von Biden zeigt bereits, dass Erdoğan seit seinem Besuch in Moskau wieder vom Westen ernst genommen wird. Will er wirklich einen Bruch mit dem Hegemon riskieren? Oder war der vereitelte Putsch die Warnung, dass er bereits auf der Abschussliste steht und es somit eh kein Zurück mehr gibt?
Syrien sollte am Ende des Krieges zwar eine formell sanktionierte Balkanisierung vermeiden können, aber könnte sich dennoch aufgeteilt in inoffizielle Einflusszonen wiederfinden. In extrem vereinfachter Weise etwa so: im Norden eine Zone regiert von Freischärler-Gruppen neben geduldeten Teilen von Kurden-Autonomien – alles unter wachsamen Auge der Türkei; ein Gebiet von Damaskus ausstrahlend und sich entlang der Küste erstreckend mit Iran und Russland als Schutzmächte; im Süden ein Gebiet, wo sich Saudi-Arabien mit Hilfe von Jordanien austoben kann; und schliesslich die Golanhöhen unter Israel, wo man weiss, wie man sich an Erobertes klammert – Völkerrecht hin oder her.
Zur Erfüllung feuchter Einflusszonen-Träume der Gegner des syrischen Volkes, die sich «Freunde» nennen, bräuchte es allerdings teilweise auch das syrische Volk. Dieses hat sich aber nun mal seit fünf Jahren zur Mehrheit dagegen gesträubt Aussenseitern die Kontrolle zu überlassen. Wenn also die türkische Syrienpolitik tatsächlich den Kursschwenk vorgenommen hat und praktisch öffentlich akzeptiert, dass Dr. Assad weiterhin eine wichtige Rolle spielt in seinem Land, dann ist es auch vorstellbar, dass diese Türkei hinter verschlossenen Türen zu für sie sinnvollen und auch dauerhaft durchsetzbaren Vereinbarungen kommt.
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