Das Ukrainische Militär nach 5 Jahren Krieg

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Geschrieben von J. Hawk exklusiv für SouthFront

Übersetzung von John T. Sumner exklusiv für SouthFront

Das sowjetische Erbe

Vor der sogenannten „Revolution der Würde“ auf dem Maidan von 2014 befand sich das ukrainische Militär im politischen Abseits und litt unter Vernachlässigung, Korruption und anderen Problemen, die den ukrainischen Staat plagten. Abgesehen vom Stellenabbau, der die Ablösung der Divisionen durch Brigaden beinhaltete, wurde in den Jahren der Unabhängigkeit keinerlei Modernisierung durchgeführt. Während die Ukraine zu einer Vielzahl internationaler Missionen beitrug und sogar ein kleines Kontingent nach Afghanistan und in den Irak entsandte, stammten diese Einheiten aus verschiedenen Elitekomponenten der Streitkräfte. Die regulären, mechanisierten und gepanzerten Brigaden verfielen einfach unter den aufeinanderfolgenden ukrainischen Regierungen.

Kiews Versuch, seine militärischen Ressourcen nach 2014 wieder zu mobilisieren, zeitigte uneinheitliche Resultate. Einerseits profitierte die Ukraine von massiven Lagerbeständen an relativ modernen Waffen aus der Sowjetzeit. Sie bedeuteten einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Waffen und Ersatzteilen, um bestehende Einheiten auszurüsten und neue aufzustellen. In der Praxis konnten jedoch die Verluste der Kämpfe von 2014 und 2015 aufgrund der Verwahrlosung der eingelagerten Ausrüstung und wegen der begrenzten Kapazitäten der ukrainischen Fertigungs- und Reparaturinfrastruktur nur unvollständig und dabei qualitativ minderwertige Ausstattung ersetzt werden. Die Ukraine ist zwar in der Lage, schwere und leichte gepanzerte Fahrzeuge herzustellen, kann dies jedoch weder in großen Mengen noch ohne kontinuierliche Lieferung bestimmter Teilsysteme aus Russland tun. Einheimische Fahrzeuge wie der Oplot Kampfpanzer oder der BTR-3- und die allradbetriebenen APC-Modelle scheinen hauptsächlich für den Export bestimmt zu sein, um dringend benötigte Valuta zu verdienen. Wegen zu hoher Kosten und anderer ungelöster Probleme wurden eigene Weiterentwicklungen an bestehenden Fahrzeugen wie am T-64BU Bulat Kampfpanzer eingestellt. Infolge von fünf Jahren periodischer Kriegsführung sind die Kontingente der Ukraine an Panzern und gepanzerten Mannschaftstransportern heute kleiner, älter, improvisierter und abgenutzter als zu Beginn des Konflikts. Der Mangel an schwerem Gerät hat Kiew gezwungen, motorisierte Brigaden mit nur wenigen gepanzerten Fahrzeugen aufzustellen.

NATO als Rettung?

Der Beitrag der NATO hat diesen Trend nicht umgekehrt. Es gibt keine Beweise dafür, dass Kampfpanzer in die Ukraine geliefert wurden, auch nicht von NATO-Mitgliedern des ehemaligen Warschauer Pakts, die sich wie Polen und die Tschechoslowakei auf die Lieferung einer geringen Anzahl von 2S1-Haubitzen und BMP-1-Truppentransportern beschränkt haben. Westliche NATO-Mitglieder haben die Ukraine ebenfalls nicht mit moderner Ausrüstung überschüttet. Die erwähnenswertesten Lieferungen an westlicher Ausrüstung sind die AT-105 Saxon 4 × 4 Truppentransporter aus Großbritannien und die Javelin Panzerabwehr-Raketen aus den Vereinigten Staaten, von denen letztere keinen Kampf erlebt haben und in Reserve geblieben zu sein scheinen. Es gab vereinzelte Lieferungen von Kleinwaffen, einschließlich US-amerikanischer Kopien von RPG-7, großkalibrigen Scharfschützengewehren, Humvees und auch von US-amerikanischen Anti-Artillerie-Radargeräten. Der wichtigste Aspekt der Auslandshilfe war die Bereitstellung von Munition für Kleinwaffen und Artillerie. Die Lieferung großer Mengen von Artilleriegeschossen an die Ukraine, um den Donbass in den letzten fünf Jahren ununterbrochen weiter zu bombardieren. Als Täter auch hier wieder die NATO-Mitglieder des ehemaligen Warschauer Pakts, deren Lieferungen als US-Militärhilfe auf das Konto der Ukraine bezahlt werden.

Ein Militär von Prätorianern

Die Tatsache, dass der ukrainische Staat nach den Ereignissen von 2014 de facto sein Gewaltmonopol verloren hat, hat auch die ukrainischen Streitkräfte geprägt. Das Militär erhielt einen mächtigen Konkurrenten in Gestalt der Nationalgarde, die einige der radikalsten neonazistischen Elemente der Ukraine umfasst und einem Staat-im-Staat unter dem Kommando von Arsen Avakov gleichkommt. Die Tatsache, dass Avakov einer der wenigen hochrangigen Persönlichkeiten aus der Poroschenko-Ära ist, die sich bis in die Zelensky-Ära gehalten haben, bestätigt den alten Verdacht, dass er ein unabhängiger Akteur innerhalb der ukrainischen Politik ist, dessen Unterordnung unter den Präsidenten nur nominell ist. Über Avakovs Verbindungen zum Westen ist nur wenig bekannt, obwohl die Tatsache, dass die westlichen Mächte die Bewaffnung von Avakovs Neonazis stillschweigend toleriert haben, darauf hindeutet, dass er als Versicherungspolice gegen Zelensky oder jeden zukünftigen ukrainischen Präsidenten, der sich Russland eventuell annähern könnte, angesehen wird. Avakov und seine Stellvertreter haben mehr als einmal klargestellt, dass er gegen jeden „Revanchismus“ in Form verbesserter Beziehungen zu Russland vorgehen würde, was seine politischen Präferenzen mit denen westlicher Hardliner in Einklang bringt. Zelenskys demütigende Auseinandersetzung mit den Kämpfern des Asowschen Regiments, die sich offenkundig weigerten, Befehle ihres vorgeblichen Oberbefehlshabers entgegenzunehmen, unterstreicht nur die Schwäche seiner Position. Es bedeutet ebenfalls, dass die Nationalgarde von Avakov nur darauf wartet, das im Fall unverhältnismäßig hoher Verluste des ukrainischen Militärs im Kampf entstehende Machtvakuum sofort zu füllen.

Aus diesem Grund haben die sieben Brigaden der Luftstreitkräfte, der Elite des ukrainischen Militärs, relativ wenige Kampfeinsätze im Donbass erlebt. Diese Brigaden wurden auf dem Fundament der ukrainischen Luftwaffe aufgebaut, mit Anpassungen an moderne Kriegsführung, einschließlich der Verwendung schwerer Ausrüstung wie dem T-80BV-Panzer, dem BTR-3- und 4-Rad-Infanterie-Kampffahrzeugen, die die BMD Luftlandepanzer der Sowjetzeit ersetzten, und natürlich Bataillone selbstfahrender Artillerie, die im Gegensatz zu Wehrpflichtigen einen deutlich höheren Anteil an Berufssoldaten aufweisen –  sie sind ohne Zweifel die kampfstärksten Einheiten, die Kiew befehligt. Sie sind auch während Paraden und Übungen, an denen westliche Beobachter teilnehmen, stets präsent. Aber anstatt an vorderster Front zu stehen, sind zwei der sieben Brigaden in der Nähe von Kiew stationiert, während der Rest relativ gleichmäßig über die Regionen der Ukraine verteilt ist, auch in den westlichen Regionen, in denen Kampfhandlungen eher unwahrscheinlich sind. Dies legt nahe, dass ihre Funktion hauptsächlich die Gewährleistung der inneren Sicherheit umfasst. Während ihre vordergründige militärische Aufgabe angeblich darin besteht, im Falle eines LPR / DPR-Angriffs und möglicherweise sogar einer direkten russischen Intervention als „Front-Feuerwehr“  zu  fungieren, deutet die Tatsache,  dass sich nur eine von sieben Brigaden zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Nähe des Donbass befindet, darauf hin, dass es in Wahrheit darum geht, eine eventuelle Machtübernahme durch die  Nationalgarde oder andere Militante zu verhindern.

Der menschliche Faktor

Die politischen Spaltungen, Korruption und die fortschreitende Verarmung der Ukraine haben ebenfalls ihre Auswirkungen auf die Streitkräfte gehabt. Damit ukrainische Brigaden zum Donbass geschickt werden konnten, um die zu jenem Zeitpunkt friedlichen Demonstrationen zu unterdrücken, mussten die Maidan-Führer eine größere Säuberung des Kommandopersonals durchführen und auf relativ junge Offiziere mit nachweislich nationalistischer Gesinnung zurückgreifen, um sicherzustellen, dass das Militär den Befehlen auch Folge leistete . Die frühen Fälle von Einheiten, die sich weigerten, gegen die Donbass-Aktivisten vorzugehen, zeigten, dass das Militär vor Maidan mental noch nicht bereit war, auf die eigenen ukrainischen Bürger zu schießen.

Das Motivationsproblem besteht seitdem weiterhin. Nur sehr wenige Ukrainer teilen Kiews politische Vorlieben oder sind daran interessiert, ihr Blut für Oligarchen zu vergießen. Diejenigen Ukrainer, die dienen, tun dies oft nur deshalb, weil ihre Militärgehälter tatsächlich im Vergleich zu den in der zerfallenden ukrainischen Wirtschaft üblichen Löhnen besser sind, ganz zu schweigen von der Aussicht auf Plünderung und / oder Schmuggel in den Grenzgebieten, wobei letzterer für mehrere Zusammenstöße zwischen verschiedenen ukrainischen Fraktionen verantwortlich ist, die versuchten, diese oder jene Schmuggelroute zu kontrollieren. Da die Motive der Soldaten jedoch auf monetäre Gewinne gerichtet sind, bleibt die Moral innerhalb jener ukrainischer Fronteinheiten, die sich tatsächlich an der Kontaktlinie befinden, niedrig, und es kommt zu einer hohen Rate von Opfern außerhalb von Kampfhandlungen, die durch Alkoholmissbrauch oder fahrlässigen Umgang mit eigenen Waffen verursacht werden

Um dies auszugleichen, haben ukrainische Kommandeure offenbar spezialisierte Angriffseinheiten gebildet, die zuverlässig sind, wenn es um schwierige Missionen geht. Die Zusammenstöße entlang der Kontaktlinie, bei denen ukrainische Streitkräfte versuchten, Positionen in dem “Niemandsland” einzunehmen, welches die kriegführenden Parteien trennte, wurden von solchen Angriffseinheiten durchgeführt, die in der Regel in Kompaniestärke antraten. Diese Zusammenstöße zeigten auch die Stärken und Schwächen dieser Formationen. Sie sind zwar in der Lage, wagemutige Angriffe zu starten, andererseits jedoch sehr verschleißanfällig, was sie letztendlich dazu zwang, zuvor eroberte Positionen wieder aufzugeben,.

Zusammenfassend kann das ukrainische Militär grob in drei Stufen unterteilt werden. An der Spitze stehen die gut ausgerüsteten und ausgebildeten mobilen Luftwaffen-Brigaden, die als letzte Rettungsmöglichkeit für den Fall des Ausbruchs einer Krise an der Front oder Heimatfront dienen sollen.

Den Bodensatz bildet die graue, unscheinbare Masse von schlecht motivierten ukrainischen Wehrpflichtigen, die in schlecht ausgerüsteten und ausgebildeten mechanisierten und motorisierten Brigaden dienen, auf die man sich eventuell verlassen kann, um Positionen in ruhigen Sektoren zu halten, aber wahrscheinlich nicht viel mehr. Dazwischen befinden sich die ausgewählten Angriffseinheiten dieser Brigaden sowie freiwillige Bataillone der Nationalgarde, die spektakuläre Hilfsaktionen durchführen können, jedoch für eine kontinuierliche Kriegsführung ungeeignet sind.

Kein Ende in Sicht

Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Situation in absehbarer Zeit ändern wird. Die Ukraine kann sich keine professionelle, freiwillige Truppe leisten, die groß genug wäre, um die Anforderungen zu erfüllen. Sie kann sich außerdem keine modernen Waffen in großen Stückzahlen leisten. Der “Prätorianer”-Effekt gab Kiew einen Anreiz, seine Vertragssoldaten und besten Waffen auf die schnell reagierenden, mobilen Luftwaffenbrigaden zu konzentrieren, anstatt sie in Führungspositionen unter den regulären mechanisierten und motorisierten Brigaden einzusetzen. Dies bedeutet zwar ein eher handlungsunfähiges Militär von radikal unterschiedlicher Kampfkraft, entspricht jedoch Kiews Wahrnehmung der Bedrohung. Die “Feuerwehren” könnten wahrscheinlich mit einer Durchbruchsgefahr seitens der LPR / DPR-Kräfte fertig werden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass das russische Militär in den Konflikt eingreift, es sei denn, es bestünde eine existentielle Gefahr für die LPR / DVR im Fall einer ukrainischen Großoffensive, die Kiew aus Angst vor einer neuen Runde schwerer Personal- und Materialverluste bislang nicht starten wollte. Nicht zuletzt scheint sich Kiew bewusst zu sein, dass der Ausgang der Donbass-Krise mehr von Moskau und Washington abhängt als von Kiews militärischen Modernisierungsbemühungen.

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