Ursprünglich erschienen bei The Vineyard Saker – Deutsche Version
vom Saker
Debunking popular clichés about modern warfare
„Wie würde ein Krieg zwischen Russland und den USA aussehen?“
Das muss die Frage sein, die mir am häufigsten gestellt wird. Das ist auch die Frage, auf die ich die fremdartigsten und schlechtinformiertesten Antworten höre. Ich habe mich in der Vergangenheit mit dieser Frage befasst, und wer an diesem Thema interessiert ist, kann folgende Artikel lesen:
- Remembering the important lessons of the Cold War
- Making sense of Obama’s billion dollar hammer
- Why the US-Russian nuclear balance is as solid as ever
- Short reminder about US and Russian nuclear weapons
- Thinking the unthinkable (Ü: Das Undenkbare denken)
- The Russia-U.S. Conventional Military Balance
Es wäre nutzlos, das alles hier zu wiederholen, also will ich mich dem Thema aus einem etwas anderen Blickwinkel annähern, aber ich würde jenen, die daran interessiert sind, sehr empfehlen, sich die Zeit zu nehmen, diese Artikel zu lesen, die, auch wenn sie überwiegend 2014 und 2015 geschrieben wurden, immer noch weitgehend gültig sind, vor allem, was die Methodologie angeht, mit diesem Thema umzugehen. Alles, was ich heute vorschlage, ist, einige beliebte Klischees über moderne Kriegsführung im Allgemeinen zu zerstören. Ich hoffe, dass ich euch, indem ich sie zerstöre, mit dem Werkzeug versehe, um den Unsinn, den uns die Konzernmedien gerne als „Analyse“ präsentieren, zu durchschneiden.
Klischee Nr. 1: das US-Militär ist Russland gegenüber konventionell enorm im Vorteil
Das alles hängt davon ab, was man mit „Vorteil“ meint. Die US-Streitkräfte sind wesentlich größer als die russischen, das ist wahr. Aber anders als die russischen sind sie über den ganzen Planeten verteilt. Was in der Kriegsführung entscheidet, ist nicht die Größe eures Militärs, sondern, wie viel davon im Einsatzgebiet (TMO, theater of military operations) tatsächlich zur Verfügung steht. Wenn ihr beispielsweise in jedem gegebenen TMO nur zwei Flugfelder besitzt, die je, sagen wir, Lufteinsätze von hundert Flugzeugen tragen können, nutzt es euch nichts, wenn ihr tausend Flugzeuge zur Verfügung habt. Vielleicht habt ihr den Satz gehört, „Zivilisten schauen auf Feuerkraft, Soldaten auf Logistik“. Das stimmt. Moderne Militärkräfte sind extrem „unterstützungslastig“, was heißt, für einen Panzer, ein Flugzeug oder ein Artilleriegeschütz braucht man eine enorme und hoch entwickelte Nachschublinie, die es dem Panzer, dem Flugzeug oder Artilleriegeschütz erlaubt, normal zu funktionieren. Einfach gesagt – wenn der Panzer keinen Treibstoff oder keine Ersatzteile hat, bleibt er stehen. Daher macht es überhaupt keinen Sinn, zu sagen, die USA hätten, beispielsweise, 13 000 Flugzeuge, und Russland nur 3 000. Das mag stimmen, ist aber außerdem irrelevant. Wichtig ist nur, wie viele Flugzeuge die USA und die NATO zu dem Zeitpunkt, an dem Kampfhandlungen beginnen, einsatzbereit haben, und was ihre Aufgabe sein würde. Die Israelis haben eine lange Geschichte der Zerstörung arabischer Luftwaffe am Boden, nicht in der Luft, durch Überraschungsangriffe, die die beste Methode darstellen, die zahlenmäßige Überlegenheit eines Gegners unwirksam zu machen. In Wirklichkeit würden die USA viele Monate brauchen, um in Westeuropa eine Truppe anzusammeln, die auch nur geringe Aussichten hätte, es mit dem russischen Militär aufzunehmen. Und in Wirklichkeit kann ebenso nichts die Russen zwingen, einfach dazusitzen und zuzuschauen, wie eine solche Truppe zusammengezogen wird (der größte Fehler, den Saddam Hussein begangen hat).
Klischee Nr. 2: ein Angreifer braucht eine Überlegenheit von 3:1 oder gar 4:1 über den Verteidiger
Nun, das „stimmt irgendwie“, vor allem auf taktischer Ebene. Es wird oft als Daumenregel gebraucht, dass man einen Vorteil von 3:1 hat, wenn man verteidigt, was heißt, wenn man ein Bataillon in der Verteidigung hat, sollte man etwa drei Bataillone in der Offensive haben, um auf einen Sieg hoffen zu können. Aber wenn man die operationelle oder, mehr noch, die strategische Ebene betrachtet, ist diese Regel völlig falsch. Warum? Weil die verteidigende Seite einen enormen Nachteil hat: es ist immer der Angreifer, der entscheidet, wann angegriffen wird, wo, und wie. Jenen, die an diesem Thema interessiert sind, empfehle ich das Buch „Surprise Attack: Lessons for Defense Planning“ von Richard Betts, das, obwohl es relativ alt ist (1982) und den Fokus sehr auf den kalten Krieg richtet, eine sehr interessante und gründliche Diskussion der Vorteile und Risiken von Überraschungsangriffen bietet. Das ist ein faszinierendes Thema, das ich hier nicht im Detail erörtern kann, aber sagen wir einmal, dass ein erfolgreich durchgeführter Überraschungsangriff die Vorteile des theoretischen Kräfteverhältnisses für den Verteidiger völlig zunichte macht. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: stellt euch eine Frontlinie von 50 km vor, wobei je 5 km auf jeder Seite von einer Division verteidigt werden. Also hat jede Seite 10 Divisionen, deren jede für die Verteidigung von 5 km Front verantwortlich ist, richtig? Gemäß der 3:1-Regel bräuchte Seite A also 30 Divisionen, um die 10 Divisionen in der Verteidigung zu überwinden? Richtig? Falsch! Seite A kann 5 ihrer Divisionen auf einer Front von 10 km bündeln und die anderen 5 zur Verteidigung halten. Auf diesen zehn Frontkilometern hat jetzt die angreifende Seite 5 angreifende Divisionen gegen 2 verteidigende, während auf dem Rest der Front Seite A 5 verteidigende Divisionen gegen 8 (möglicherweise) angreifende hat. Achtet darauf, dass Seite B keinen 3:1-Vorteil hat, um die Verteidigung von A zu überwinden (das aktuelle Verhältnis ist jetzt 8:5). Was B in Wirklichkeit tun wird, ist, mehr Divisionen zu bringen, um den schmalen Abschnitt von 10 km zu verteidigen, aber das bedeutet wiederum, dass B jetzt weniger Divisionen hat, um die gesamte Front zu verteidigen. Von hier aus könnt ihr viele Annahmen treffen: Seite B kann einen Gegenangriff durchführen, statt zu verteidigen, Seite B kann sich in die Tiefe verteidigen (in mehreren Staffeln, 2 oder gar 3), Seite A könnte auch damit beginnen, einen Angriff an einem Abschnitt der Front vorzutäuschen und dann an anderem Ort anzugreifen, oder Seite A kann, sagen wir mal, ein verstärktes Bataillon schicken, das sich wirklich schnell bewegt und Chaos tief in der Verteidigung von B anrichtet. Mein Punkt ist hier schlicht, dass diese 3:1-Regel eine rein taktische Daumenregel ist, und dass in wirklicher Kriegsführung die theoretischen Kräfteverhältnisse (die Normen) weit aufwendigere Berechnungen benötigen, einschließlich der Konsequenzen eines Überraschungsangriffs.
Klischee Nr. 3: Hochtechnologie trägt den Sieg davon
Das ist eine fantastisch falsche Aussage, und dennoch ist dieser Mythos unter Zivilisten, insbesondere in den USA, ein geheiligtes Dogma. In der wirklichen Welt bringen Hochtechnologiewaffen, auch wenn sie wertvoll sind, eine lange Liste von Problemen mit sich, deren erstes schlicht die Kosten sind.
[Randbemerkung: als ich in den späten 1990ern Militärstrategie studierte, präsentierte uns einer unserer Lehrer (von der US Air Force) eine Grafik, die die ansteigenden Kosten für ein einziges US-Kampfflugzeug von den 1950ern bis in die 1990er zeigte. Er verlängerte diese Tendenz dann in die Zukunft und zog scherzend den Schluss, dass etwa 2020 die USA nur noch das Geld hätten, ein einziges und sehr, sehr teures Kampfflugzeug zu kaufen. Das war natürlich ein Witz, aber er enthielt eine sehr ernste Lektion: davon galoppierende Kosten können zu irrwitzig teuren Waffensystemen führen, von denen nur einige wenige Exemplare produziert werden können, die einzusetzen dann sehr riskant wird].
Technologie ist außerdem üblicherweise fragil und braucht ein sehr komplexes Netzwerk für Nachschub, Wartung und Reparatur. Es ist sinnlos, den besten Panzer des Planeten zu haben, wenn er den größten Teil der Zeit größere Reparaturen braucht.
Mehr noch, eines der Probleme hoch entwickelter Hightech-Ausrüstung ist, dass ihre Komplexität es möglich macht, sie auf viele unterschiedliche Arten anzugreifen. Nehmen wir beispielsweise eine bewaffnete Drohne. Sie kann geschlagen werden, indem:
- sie vom Himmel geschossen wird (aktive Verteidigung)
- ihre Sensoren geblendet oder auf andere Art außer Gefecht gesetzt werden (aktive Verteidigung)
- ihre Kommunikation mit dem Bediener unterbrochen wird (aktive Verteidigung)
- ihr Navigationssystem gestört oder außer Gefecht gesetzt wird (aktive Verteidigung)
- Camouflage/Täuschung (passive Verteidigung)
- Anbieten falscher Ziele (passive Verteidigung)
- Schutz von Zielen, indem man sie z.B. eingräbt (passive Verteidigung)
- mobil bleibt und/oder dezentralisiert und/oder redundant (passive Verteidigung)
Es gibt noch weit mehr mögliche Maßnahmen, das alles hängt von der tatsächlichen Bedrohung ab. Der Schlüssel sind hier wieder Kosten und Praktikabilität: wie viel kostet es, ein fortgeschrittenes Waffensystem zu entwickeln, zu bauen und einzusetzen, im Verhältnis zu den Kosten einer (oder mehrerer) Gegenmaßnahmen.
Schließlich hat die Geschichte immer wieder gezeigt, dass die Kampfmoral weit wichtiger ist als die Technologie. Schaut euch nur die absolut demütigende und totale Niederlage der viele Milliarden schweren israelischen Hochtechnologiearmee gegen die Hisbollah 2006 an. Die Israelis haben ihre gesamte Luftwaffe eingesetzt, einen guten Teil ihrer Marine, ihre sehr große Artillerie und ihre neuesten Panzer, und sie wurden von vermutlich weniger als 2 000 Hisbollah-Kämpfern geschlagen, vernichtend geschlagen, und das waren noch nicht einmal die besten, die die Hisbollah hatte (die hielten sie nördlich des Litani). Der Lufteinsatz der NATO gegen das serbische Armeekorps im Kosovo wird ebenfalls als eine der schlimmsten Niederlagen einer enormen, durch Hightechwaffen unterstützen, Militärallianz gegen ein kleines, mit klar veralteten Waffensystemen ausgerüstetes Land in die Geschichte eingehen.
[Randnotiz: was den AngloZionisten in diesen beiden Kriegen tatsächlich „den Sieg brachte“, ist eine Propagandamaschine, die wirklich Weltklasse ist, und das Ausmaß der Niederlage der AngloZionistischen Kräfte erfolgreich verhüllte. Aber die Information ist da draußen, und ihr könnt sie selbst finden.]
Klischee Nr. 4: der große Militäretat trägt den Sieg davon
Das ist ebenfalls ein Mythos, der in den USA besonders beliebt ist. Wie oft habt ihr etwas gehört wie „die Milliarden-Dollar-B2“ oder den „sechs Milliarden Dollar Flugzeugträger der Nimitz-Klasse“? Hier wird die Behauptung aufgestellt, dass die B-2 oder die Nimitz, weil sie so viel Geld kosten, wirklich beeindruckend sein müssen. Aber sind sie das?
Nehmt einmal den mehr als dreihundert Millionen Dollar teuren F-22A „Raptor“ und schaut dann die Unterabteilung „Einsätze“ im Wikipedia-Artikel über den F-22A an. Was haben wir da? Ein paar Mal einige russische T-95 (Einführungsjahr 1956) Bomber abgefangen und eine iranische F-4 Phantom (Einführungsjahr 1960). Das, ein paar Bombenflüge in Syrien und eine wilde Mischung von Verlagerungen nach Übersee aus PR-Gründen. Das war’s! Auf dem Papier ist die F-22A ein beeindruckendes Flugzeug, und auf vielfache Weise ist sie das wirklich, aber die Wirklichkeit im echten Leben ist, dass die F-22A bisher nur auf Einsätzen gebraucht wurde, die eine F-16, F-15 oder F-18 billiger und oft auch besser erledigt hätten (die F-22A ist ein beschissener Bomber, wenn auch nur, weil sie nie dafür entworfen wurde).
Ich höre schon das Gegenargument: die F-22A wurde für einen Krieg gegen die UdSSR entworfen, und hätte dieser Krieg stattgefunden, hätte sie Hervorragendes geleistet. Ja, vielleicht, abgesehen davon, dass weniger als 200 davon je gebaut wurden. Abgesehen davon, dass die F-22, damit sie ein flaches Radarprofil hat, einen sehr kleinen Waffenschacht besitzt. Abgesehen davon, dass die Sowjets auf all ihren MiG-29 (wirklich kein Hightech-Kampfflugzeug) und ihren SU-27 Infrarot-Such- und Verfolgungssysteme eingesetzt hatten. Abgesehen davon, dass die Sowjets bereits angefangen hatten, „Anti-Stealth“-Radare zu entwickeln und dass die F-22A heute gegen modernes russisches Radar völlig nutzlos ist. Nichts davon stellt in Frage, dass die F-22A technologisch gesehen eine große Errungenschaft und ein sehr eindrucksvoller Luftüberlegenheitskämpfer ist. Aber einer, der in einem wirklichen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion nicht viel Unterschied gemacht hätte.
Klischee Nr. 5: große Militärallianzen helfen, Kriege zu gewinnen
Noch ein weiterer Mythos, der im Westen geliebt wird: Allianzen gewinnen Kriege. Das typische Beispiel ist natürlich der zweite Weltkrieg: theoretisch bildeten Deutschland, Italien und Japan die „Achsenmächte“, während 24 Nationen (einschließlich der Mongolei und Mexikos) die „Alliierten“ bildeten. Wie wir alle wissen, besiegten die Alliierten die Achse. Das ist völliger Blödsinn. Die Wirklichkeit ist ganz anders. Hitlers Truppen umschlossen etwa zwei Millionen Europäer aus 15 verschiedenen Ländern, die die deutschen Truppen um 59 Divisionen, 23 Brigaden, eine Reihe separater Regimenter, Bataillone und Legionen verstärkten. Mehr noch, die Rote Armee sorgte für über 80% der deutschen Verluste (an Soldaten wie an Material) während des Krieges. Alle anderen, einschließlich der USA und des Vereinigten Königreichs, teilten sich die schäbigen 20% oder weniger und schlossen sich dem Krieg an, als Hitler bereits sichtbar geschlagen war. Einige werden verschiedene Widerstandsbewegungen erwähnen, die den Nazis widerstanden, oft heldenhaft. Ich will ihre Tapferkeit und ihren Beitrag nicht abstreiten, aber es ist wichtig, wahrzunehmen, dass keine Widerstandsbewegung in Europa auch nur eine einzige Wehrmachts- oder SS-Division besiegt hat (10 bis 15 000 Mann). Im Vergleich dazu haben in Stalingrad allein die Deutschen 400 000 Soldaten verloren, die Rumänen 200 000, die Italiener 130 000 und die Ungarn 120 000, ein Gesamtverlust an 850 000 Soldaten. In der Schlacht am Kursker Bogen schlugen die Sowjets 50 deutsche Divisionen, die etwa 900 000 Soldaten zählten.
[Randnotiz: Während Widerstandsbewegungen üblicherweise mit Sabotage, Diversion oder Angriffen auf hochwertige Ziele befasst waren, waren sie nie dazu geschaffen, reguläre miltärische Einheiten anzugreifen, nicht einmal in Kompaniestärke (etwa 120 Mann). Die deutschen Truppen in der UdSSR wurden in mehrere Heeresgruppen unterteilt, deren jede 4-5 Armeen umfasste (jede mit etwa 150 000 Soldaten). Was ich mit diesen Zahlen zu illustrieren versuche, ist die Größenordnung der Kampfhandlungen an der Ostfront, die sich nicht nur von all dem unterschieden, womit irgendeine Widerstandsbewegung umgehen kann, sondern sich auch von jedem anderen Kampffeld des zweiten Weltkriegs unterschieden, zumindest was den Landkrieg betrifft – der Seekrieg im Pazifik war ebenfalls ein Kampf von enormer Größe).
Historische Aufzeichnungen belegen, dass eine einheitliche militärische Kraft unter einem Kommando üblicherweise besser abschneidet als große Allianzen. Oder, um es anders auszudrücken, wenn sich große Allianzen bilden, dann gibt es meist den „einen großen Kerl“, der wirklich wichtig ist, und alles Andere ist mehr oder weniger Begleitmusik (natürlich sieht sich der einzelne Kombattant, der angegriffen, verstümmelt und getötet wird, nicht als „Begleitmusik“, aber das ändert nichts am Gesamtbild).
Wenn man von der NATO spricht, so gibt es in Wirklichkeit keine NATO außerhalb der USA. Die USA sind das einzige Land der NATO, das wirklich wichtig ist. Nicht nur in Hinsicht auf Zahlen und Feuerkraft, sondern auch in Hinsicht auf Aufklärung, Machtprojektion, Mobilität, Logistik etc. Jeder einzelne US-Kommandeur weiß das und versteht es völlig, und während er seinen nicht-US-Kollegen in Mons und auf Cocktailpartys in Brüssel gegenüber makellos höflich bleibt, werden die Amerikaner doch, wenn das sprichwörtliche Rinderexkrement den Ventilator trifft und jemand gehen muss und gegen die Russen kämpfen, sich nur auf sich selbst verlassen und froh sein, wenn der Rest der NATO-Mitglieder ohne Verzögerung aus dem Weg geht.
Klischee Nr. 6: Verlagerung nach vorne verschafft große Vorteile
Tag für Tag hören wir, wie die Russen sich beschweren, dass die NATO sich an ihre Grenzen bewegt, dass jetzt Tausende US-Truppen ins Baltikum oder nach Polen verlegt werden, dass die USA anti-ballistische Raketen nach Rumänien verlegt hat und dass die Schiffe der US-Navy im baltischen wie im schwarzen Meer ständig mit der russischen Küste schmusen. Und es stimmt alles und ist sehr beklagenswert. Aber die Russen sind ein bisschen unaufrichtig, wenn sie das alles als eine militärische Bedrohung Russlands darzustellen versuchen.
Die Wahrheit ist, dass die Verlagerung von US-Truppen in die baltischen Staaten oder die Entsendung von Schiffen der US-Navy ins Schwarze Meer ziemlich dumme Ideen sind , zum einen, weil die drei baltischen Staaten ohnehin nicht zu verteidigen sind, und zum anderen, weil das Schwarze Meer in jeder praktischen Hinsicht ein russischer See ist, auf dem das russische Militär jedes Schiff binnen einer halben Stunde oder weniger entdecken und zerstören kann. Die Amerikaner sind sich dessen ziemlich bewusst, und wenn sie vorhätten, gegen Russland loszuschlagen, würden sie es nicht von einem nach vorne verlagerten Schiff aus tun, sondern mit weitreichenden Luft-Boden-Waffen wie ballistischen oder gelenkten Raketen.
[Randnotiz: die Vorstellung, dass Russland jemals irgendeinen der baltischen Staaten angreifen wollte oder ein Schiff der US-Navy versenken, ist lächerlich und ich will keinesfalls nahelegen, dass das passieren könnte. Aber wenn man rein militärische Fragen betrachtet, sieht man sich Möglichkeiten an, nicht Absichten].
Die Reichweite moderner Waffen ist so groß, dass es im Falle eines Krieges in Europa vermutlich keine wirkliche „Front“ und kein „Hinterland“ geben wird, aber dem Feind näher zu sein bedeutet immer noch, leichter entdeckt zu werden und einer größeren Auswahl möglicher Waffen ausgesetzt zu sein. Einfach gesagt, je näher man der russischen Feuerkraft ist, den elektronischen Waffensystemen, den Aufklärungsnetzwerken und dem Personal, desto größer die Zahl der möglichen Bedrohungen, um die man sich Sorgen machen muss.
Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass eine Verlagerung nach vorn keinerlei Vorteile verschafft, das tut sie: die Waffensysteme reichen weiter, die Flugzeit eurer Raketen (ballistischer wie gelenkter) ist kürzer, eure Flugzeuge brauchen weniger Treibstoff, um in ihr Einsatzgebiet zu gelangen etc. Aber diese Vorteile haben einen sehr wirklichen Preis. Die augenblicklich nach vorne verlagerten US-Truppen sind im besten Falle eine Art Stolperdrahttruppen, deren Ziel politisch ist: Entschlossenheit zu zeigen. Aber sie sind keine wirkliche Bedrohung für Russland.
Klischee Nr. 7: Die USA und die NATO beschützen osteuropäische Länder
Auf dem Papier und in der offiziellen NATO-Propaganda sind ganz Europa und die USA bereit, nötigenfalls den dritten Weltkrieg zu beginnen, um Estland vor den revanchistischen russischen Horden zu bewahren. Wenn man betrachtet, wie die winzigen baltischen Staaten und Polen Russland kontinuierlich ankläffen und sich mit einem scheinbar endlosen Strom infantiler, aber dennoch arroganter Provokationen befassen, scheinen die Leute in Osteuropa das wirklich zu glauben. Sie denken, sie sind Teil der NATO, Teil der EU, Teil des „zivilisierten Westens“, und ihre AngloZionistischen Herren werden sie vor diesen schrecklichen Russkies beschützen. Dieser Glaube zeigt, wie dumm sie sind.
Ich habe oben geschrieben, dass die USA die einzige wirkliche militärische Macht in der NATO sind, und dass die militärische und politische Führung der USA das weiß. Und sie haben recht. Die Fähigkeiten des nicht-US-Teils der NATO sind ein Witz. Was glaubt ihr, sind, sagen wir, die belgischen oder polnischen Streitkräfte in Wirklichkeit? Richtig – sowohl ein Witz als auch ein Ziel. Und was ist mit den glorreichen und unbesiegbaren Portugiesen und Slowenen? Das Gleiche. In Wirklichkeit sind die nicht-US NATO-Truppen nur Feigenblätter, die die Tatsache verhüllen, dass Europa eine US-Kolonie ist – einige Feigenblätter sind größer, andere kleiner. Aber selbst die größten Feigenblätter (Deutschland und Frankreich) sind nicht mehr als das – ein Wegwerfgerät im Dienst der wirklichen Herren des Empire. Sollte je ein wirklicher Krieg in Europa ausbrechen, wird man all diesen großkotzigen europäischen Kleinstaaten erklären, verfickt nochmal aus dem Weg zu gehen und die großen Jungs ihren Job machen zu lassen. Sowohl die Amerikaner als auch die Russen wissen das, aber aus politischen Gründen werden sie das nie öffentlich zugeben.
Hier muss ich gestehen, dass ich das nicht beweisen kann. Ich kann nur mein persönliches Zeugnis anbieten. Als ich in Washington DC an meinem Master in Strategischen Studien arbeitete, hatte ich die Gelegenheit, eine Menge US-Militärpersonal zu treffen und mit ihnen Zeit zu verbringen, von Offizieren der Armored Cavalry, die im Fulda Gap stationiert waren, bis zum Stabschef der US-Navy. Das erste, das ich über sie sagen möchte, ist, dass sie alle Patrioten waren, und, denke ich, ausgezeichnete Offiziere. Sie alle waren absolut im Stande, den politischen Unsinn (wie die Einbildung, vorverlagerte US-Flugzeugträger sollten die Halbinsel Kola angreifen) davon zu unterscheiden, wie die USA wirklich kämpfen würden. Ein führender Offizier des Pentagon, der zum ONA gehörte (office of net assessment, eine Art Pentagon-interner Denkfabrik, AdÜ.), war da sehr offen und erklärte in unserem Klassenzimmer, „kein US-Präsident wird je Chicago opfern, um München zu schützen“. Anders gesagt, ja, die USA würden gegen die Sowjets kämpfen, um Europa zu schützen, aber sie würden den Kampf nie bis zu einem Punkt eskalieren, an dem das Territorium der USA durch sowjetische Atomraketen bedroht würde.
Der offensichtliche Fehler hier ist die Annahme, dass Eskalation geplant und kontrolliert werden könne. Nun, in den unterschiedlichsten Büros, Diensten und Abteilungen wird Eskalation geplant, aber all diese Modelle zeigen normalerweise, dass sie sehr schwer zu kontrollieren ist. Und was Deeskalation angeht, so kenne ich überhaupt keine guten Modelle, die sie beschreiben (aber meine persönliche Erfahrung mit diesen Dingen ist inzwischen recht alt, vielleicht haben sich die Dinge seit den späten 1990ern geändert?). Bedenkt, dass beide, die USA wie Russland, in ihren Militärdoktrinen den Einsatz von Atomwaffen vorsehen, um eine Niederlage in konventioneller Kriegsführung zu verhindern. Wenn wir also glauben, wie ich es tue, dass die USA nicht bereit sind, um, sagen wir, Polen zu retten, zu Atomwaffen zu greifen, dann heißt das im Grunde, dass die USA ebenfalls nicht bereit sind, Polen konventionell zu verteidigen, oder zumindest, es nur ein wenig zu verteidigen bereit sind.
Noch einmal, die Vorstellung, Russland würde irgend jemanden in Europa angreifen, ist mehr als lächerlich, kein russischer Staatsmann würde jemals einen derart dummen, nutzlosen, kontraproduktiven und selbstzerstörerischen Plan in Erwägung ziehen, schon allein, weil Russland gar kein Gebiet braucht. Wenn Putin Poroschenko sagt, dass er den Donbass nicht übernehmen will, wie wahrscheinlich ist es dann, dass die Russen davon träumen, Litauen oder Rumänien zu besetzen? Ich fordere jeden dazu auf, mir irgendeinen rationalen Grund zu liefern, warum die Russen irgendein Land im Westen (oder irgendwo anders) angreifen wollen sollten, selbst wenn dieses Land kein Militär hat und nie Mitglied einer Militärallianz war. Tatsächlich hätte Russland im Krieg des 08.08.08 leicht in Georgien einmarschieren können, hat es aber nicht getan. Und wann habt ihr das letzte Mal gehört, dass die Mongolei oder Kasachstan einen russischen (oder chinesischen) Einmarsch fürchten?
Die schlichte Wahrheit ist also, dass trotz all dieser großen Gesten und der stimmgewaltigen Behauptungen, Europa gegen die „russische Bedrohung“ verteidigen zu wollen, es keine russische Bedrohung gibt, so wie die USA nie absichtlich einen nuklearen Schlagabtausch mit Russland beginnen würden, um Chisinau oder gar Stockholm zu verteidigen.
Schlussfolgerung
Wenn all das Obige nur Klischees sind, die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben, warum sind die westlichen Konzernmedien so voll mit diesem Unsinn? Vor allem aus zwei Gründen: Journalisten sind meist „Hans Dampf in allen Gassen“, aber Meister in gar nichts, und sie ziehen es bei weitem vor, die vorgefertigte Propaganda weiterzureichen, statt den Aufwand zu treiben, etwas wirklich zu verstehen. Die sprechenden Köpfe im Fernsehen, die verschiedenen Generäle, die auf CNN und dem Rest als „Experten“ reden, die sind ebenfalls schlichte Propagandisten. Die wirklichen Profis sind damit beschäftigt, für die unterschiedlichen Regierungsagenturen zu arbeiten, und sie setzen sich nicht live ins Fernsehen, um von der „russischen Bedrohung“ zu reden. Aber der wichtigste Grund für diese unsinnige Propaganda ist, dass durch die ständige Vortäuschung, ein militärisches Thema zu diskutieren, die anglozionistischen Propagandisten den wahren Charakter des sehr wirklichen Konflikts zwischen Russland und den USA um Europa verbergen: ein politischer Kampf um die Zukunft Europas: so wenig Russland die Absicht hat, irgendwo einzumarschieren, hat es doch ein enormes Interesse daran, Europa aus seinem gegenwärtigen Zustand als US-Kolonie/Protektorat zu lösen. Die Russen haben völlig begriffen, dass zwar die gegenwärtigen europäischen Eliten unter einem manischen Russenhaß leiden, die meisten Europäer aber nicht (mit der möglichen Ausnahme der baltischen Staaten und Polens). In diesem Sinne ist die Entscheidung beim Eurovisions-Wettbewerb, bei dem die Publikumsentscheidung von den sogenannten „Experten“ gekippt wurde, höchst symbolisch.
Der erste Generalsekretär der NATO hat ihren Zweck sehr offen ausgesprochen: „die Russen draußen halten, die Amerikaner drinnen, und die Deutschen unten“. Die Russen wollen es genau anders herum: die Russen drinnen (ökonomisch, nicht militärisch, natürlich), die Amerikaner draußen und die Deutschen oben (ökonomisch, wieder). Das ist der wirkliche Grund für all die Spannungen in Europa: die USA wollen verzweifelt einen zweiten Kalten Krieg, während Russland ebenso bemüht ist, ihn zu verhindern.
Wie würde also ein Krieg zwischen Russland und den USA aussehen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das hängt alles von so vielen verschiedenen Faktoren ab, dass es fast unmöglich vorherzusagen ist. Das heißt nicht, dass es nicht passieren kann oder wird. Es gibt eine Reihe sehr schlechter Anzeichen, dass das Empire auf unverantwortliche Weise handelt. Eines der schlimmsten ist, dass der NATO-Russland-Rat fast völlig außer Funktion ist.
Der Hauptgrund für die Schaffung des NATO-Russland-Rats war, sicherzustellen, dass sichere Kommunikationswege offen sind, insbesondere in einer Krise oder einer Spannungssituation. Um ihr Missfallen an Russland wegen der Ukraine zu signalisieren, hat die NATO den NATO-Russland-Rat fast völlig abgeschaltet, obwohl er für genau diesen Zweck geschaffen wurde.
Mehr noch, auch wenn die Verlagerung nach vorne militärisch oft nutzlos ist, ist sie dennoch möglicherweise gefährlich, weil ein örtlicher Zwischenfall zwischen den beiden Seiten schnell zu etwas sehr Ernstem eskalieren kann. Insbesondere, wenn wichtige Kommunikationslinien zuvor schon beseitigt wurden. Die Gute Nachricht, relativ gesehen, besteht darin, dass die Notfallkommunikation zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus noch besteht, und dass es zwischen den russischen und den US-amerikanischen Streitkräften ebenfalls direkte Notfallkanäle gibt. Aber am Ende des Tages ist das Problem kein technologisches, sondern ein psychologisches: die Amerikaner sind offenbar unfähig oder unwillens, über überhaupt irgendetwas zu verhandeln. Irgendwie haben die Neocons ihre Weltsicht dem tiefen Staat der USA eingeprägt, und diese Weltsicht besteht darin, dass sich in der Dynamik zwischen Russland und den USA nichts bewegen darf, dass es nichts zu verhandeln gibt, und dass die einzig denkbare Herangehensweise darin besteht, Russland mit Mitteln der Isolation und Einhegung zu zwingen, sich zu fügen und dem Empire zu unterwerfen. Das wird natürlich nicht funktionieren. Die Frage ist, ob die Neocons die intellektuellen Fähigkeiten besitzen, das zu verstehen, oder ob, alternativ, die „alten“ Anglo-US-Patrioten die „Irren aus dem Keller“ (wie Bush Senior die Neocons zu nennen pflegte) aus dem Weißen Haus kicken können.
Aber wenn Hillary es im November ins Weiße Haus schafft, dann werden die Dinge wirklich beängstigend. Erinnert ihr euch, dass ich sagte, kein US-Präsident würde je eine Stadt der USA zur Verteidigung einer Stadt in Europa opfern? Nun, das setzt einen patriotischen Präsidenten voraus, einen, der sein Land liebt. Ich glaube nicht, dass die Neocons einen Pfifferling auf Amerika geben oder auf das amerikanische Volk, und diese Irren könnten durchaus denken, dass es den Preis wert ist, eine (oder viele) US-Städte zu opfern, wenn man dafür Atomraketen auf Moskau werfen darf.
Jede Theorie der Abschreckung setzt einen „rationalen Akteur“ voraus, keine psychopathische, hasserfüllte Kabale von „Irren aus dem Keller“.
Während der letzten Jahre des Kalten Krieges hatte ich weit mehr Angst vor den Gerontokraten im Kreml als vor den Anglo-Offizieren und den Offiziellen des Weißen Hauses oder des Pentagon. Jetzt fürchte ich die (relativ) junge Generation des „arschleckenden kleinen Hühnermists“ von Offizieren à la Petraeus, oder Wahnsinnigen wie General Breedlove, die an die Stelle der Kalten Krieger „alten Stils“ getreten sind (wie den Admirälen Elmo Zumwalt, William Crowe oder Mike Mullen), die zumindest wussten, dass ein Krieg gegen Russland um jeden Preis vermieden werden muss. Es macht mir regelrecht Angst, festzustellen, dass das Empire jetzt von unprofessionellen, inkompetenten, unpatriotischen und ehrlosen Männern geführt wird, die entweder von hasserfüllten Ideologien angetrieben werden oder deren einziges Lebensziel darin besteht, ihren politischen Vorgesetzten zu gefallen.
Die Beispiele von Ehud Olmer, Amir Peretz und Dan Halutz, die 2006 gegen die Hisbollah in den Krieg zogen, oder Saakaschwilis Versuch einer ethnischen Säuberung Südossetiens 2008 haben der Welt gezeigt, dass Führer, die von Ideologie getrieben werden, absolut nicht zu gewinnende Kriege anfangen können, insbesondere, wenn sie ihrer eigenen Propaganda über ihre Unbesiegbarkeit glauben. Hoffen und beten wir, dass diese Art Irrsinn nicht die jetzige US-Führung ergreift. Das beste, was für die Zukunft der Menschheit geschehen könnte, wäre, wenn wieder wirkliche Patrioten in den Vereinigten Staaten an die Macht kämen. Dann könnte die Menschheit endlich einen großen Seufzer der Erleichterung von sich geben.
Der Saker