Die zweite Entkolonialisierung
Bis zu einem gewissen Grad ist dies wieder ein Déjà-Vu. Als das britische und das französische Kolonialreich, die durch die beiden Weltkriege, die sie nicht nur bankrott machten, sondern auch deutlich zeigten, dass “farbige” Soldaten ebenso kämpfen konnten wie “weiße”, zusammenbrachen, füllten die beiden Supermächte prompt die Lücke. Während in einigen Fällen die Vereinigten Staaten schnell einzogen, als die Franzosen und Briten abreisten und die Eliten ihre Ausbildung hinterließen, entschieden sich jene Länder, die fast ausnahmslos echte nationale Befreiungsbewegungen erlebten, für ein Bündnis mit der UdSSR.
Im Gegensatz zu westlicher Propaganda aus der Zeit des kalten Krieges war die UdSSR aus mehreren Gründen ein attraktiver Partner für die internationale Zusammenarbeit, darunter die nachgewiesene Fähigkeit, westliche Mächte im Krieg zu besiegen (eine wichtige Überlegung für die Entwicklung postkolonialer Staaten), das marxistische Wirtschaftsentwicklungsmodell, durch welches es gelang, das Land innerhalb eines Jahrzehnts zu industrialisieren, und die Abwesenheit einer legalisierten Rassendiskriminierung, die in den USA bis in die späten 1960er-Jahre der Normalfall war.
Die Möglichkeit, zwischen zwei nachweislich unterschiedlichen Entwicklungsmodellen der beiden Supermächte zu wählen, hatte sowohl Vorteile als auch Gefahren für die Entwicklungsländer Afrikas, Asiens und sogar Lateinamerikas.
Der Nutzen lag in der Angst vor dem „Domino-Effekt”, der die „Erste Welt” zwang, der „Dritten Welt” erheblich bessere Konditionen anzubieten, welche sie nicht angeboten hätten, hätte die „Zweite Welt” nicht existiert.
Die Gefahr lag in der Form von Supermacht- „Stellvertreterkriegen”, die die Länder daran hinderten, in Richtung UdSSR zu driften, oder die wirtschaftlichen und politischen Systeme der Länder, die dem Ostblock beigetreten waren, zu untergraben.
Die Ermordung von Patrice Lumumba, der Vietnamkrieg, die Militärputsche in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, die Wirtschaftsblockade Kubas und viele andere derartige Kampagnen waren Teil der Bemühungen der USA, den sowjetischen Einfluss der Entwicklungsländer zu beseitigen.
Das Ende des Kalten Krieges bedeutete eine Verschiebung hin zur globalen Unipolarität, in der es keine konkurrierenden Wirtschaftsmodelle geben würde. Der ökonomische Neoliberalismus war nun „das einzige Spiel in der Stadt” auf globaler Ebene, und die Politik von TINA („there is no alternative”/„es gibt keine Alternative”) regierte die Bühne.
Doch der Wandel hin zu einer multipolaren Welt, welcher in den 2010er Jahren offensichtlich wurde, bedeuten Chancen und Gefahren für die Entwicklungsländer vergelichbar mit zu denen während des Klaten Krieges, obwohl das Spiel aufgrund der größeren Zahl globaler Machtzentren erheblich komplexer ist, als es in der Zeit der Bipolarität war.
Multipolarität in Aktion
Während es auf den ersten Blick so aussieht, als würde sich die Welt wieder in Richtung Bipolarität bewegen, gibt es in der Praxis vier Hauptakteure: die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, China und natürlich Russland. Während die USA und die EU zusammen den „Westen” bilden, können sie sich aber auch gegenseitig unterbieten, um die eigenen Einflusssphären zu schützen, sei es die Monroe-Doktrin, das britische Commonwealth oder das frankophone Afrika. Russland und China sind sich in ihren jeweiligen Bemühungen in Afrika bisher nicht einig, obwohl das Fehlen sichtbarer Interessenkonflikte bislang auf eine informelle Aufteilung der Zuständigkeiten hindeutet.
Das erneute Interesse Russlands an Afrika wurde durch die Bemühungen des Westens ausgelöst, Russland politisch und wirtschaftlich zu isolieren. Ungeachtet früherer Provokationen schien Russland vor 2014 auf einem stabilen Kurs in Richtung wirtschaftlicher und politischer Integration mit dem Westen zu sein, und wäre dieser Kurs nicht grob durch die NATO-Erweiterung, den Regimewechsel in der Ukraine und die allgemeine Dämonisierungskampagne „wahrscheinlich Russland”, unterbrochen worden wäre Russland nicht gezwungen gewesen, sich auf das zurückzubesinnen, was der Westen als seinen rechtmäßigen Einflussbereich ansieht, wenn seine eigenen Sicherheitsinteressen an den eigenen Grenzen respektiert würden.
Was hat Russland zu bieten?
Es scheint, viele Dinge. Falls das Russland-Afrika-Wirtschaftsforum, welches am 23./24. Oktober 2019 in Sotschi stattfand, auf dem über 500 Abkommen im Wert von schätzungsweise 12 Milliarden US-Dollar unterzeichnet wurden und an denen Staats- und Regierungschefs aus 50 afrikanischen Staaten und acht afrikanischen internationalen Organisationen teilnahmen, ein Indiz ist, dann stehen wirtschaftliche Entwicklung und für beide Seiten vorteilhafte Geschäftsvorhaben ganz oben auf der Liste der Beiträge zu Wohlstand und politischer Stabilität Afrikas. In ähnlicher Weise berichtete das Bloomberg-Netzwerk, dass die Russischen Eisenbahnen Verhandlungen über einen Vertrag im Wert von möglicherweise 500 Millionen US-Dollar zur Modernisierung des Eisenbahnnetzes der Demokratischen Republik Kongo führen, und Rosatom mit Äthiopien über den Bau eines Atomkraftwerks verhandelt. Die Entschuldung in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar, die verschiedene afrikanische Staaten Russland schuldeten, dürfte ebenfalls zu neuen Projekten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit führen. Obwohl diese beeindruckenden Zahlen im Vergleich zu den chinesischen Investitionen in der Region immer noch verblassen, deuten sie darauf hin, dass afrikanische Länder nicht abgeneigt sind, mehr als einen nichtwestlichen Partner im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung zu haben.
Wo Russland China übertrifft, ist bei der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten, und hier könnte tatsächlich ein stillschweigendes Abkommen mit China über die Abgrenzung von Verantwortlichkeiten bestehen. Die Präferenz Russlands im Bereich der Sicherheitskooperation ist auf mehrere Überlegungen zurückzuführen. Dazu gehören Beziehungen, die während des Kalten Krieges geknüpft wurden, die nachgewiesene Zuverlässigkeit und Langlebigkeit russischer Waffen auf afrikanischen Schlachtfeldern, aber auch Russlands kürzlich wieder hergestelltes Können, verschiedene Arten von Kriegen zu führen, kombiniert mit seiner Fähigkeit, westlichen militärischen Bedrohungen entgegenzutreten. Diese letztere Eigenschaft ist für Entwicklungsländer von Interesse, die befürchten, am Ende des 21. Jahrhunderts bei einer Version von „The White Mans Burden” angekommen zu sein, und wieder von weissen beherrscht zu werden. Während Chinas jüngste militärische Entwicklungen beeindruckend sind, hat sich das Land weder bereit noch in der Lage gezeigt, seine Fähigkeit zur Verteidigung entfernter Verbündeter durch militärische Gewalt unter Beweis zu stellen. Sollten chinesische Investitionen und Vermögenswerte in Afrika vom Westen ausgehenden militärischen oder paramilitärischen Bedrohungen ausgesetzt sein, scheinen die chinesischen Streitkräfte nicht in der Lage zu sein, sie zu schützen. Momentan ist es eher wahrscheinlich, dass China sich für diesen Schutz auf Russland verlassen wird. Aus diesem Grund können Russland und China möglicherweise ein äußerst effektives Tandem bilden, dem die westlichen Mächte nur schwer entgegentreten können.
Die Sicherheitsdimension des Engagements Russlands in Afrika scheint für eine Reihe afrikanischer Staaten attraktiv zu sein, die sich Sorgen über das US-Design in der Region machen, insbesondere nach den gescheiterten, von den USA gesponserten „Farbrevolutionen” im Nahen Osten. Einige afrikanische Staaten, darunter der Sudan und die Zentralafrikanische Republik (letztere liegen eindeutig im französischen Einflussbereich), haben bereits offen Interesse an einer russischen Militärbasis bekundet. Die große Reichweite Russlands wurde auch durch den Besuch zweier strategischer Bomber des Typs Tu-160 in der Republik Südafrika unter Beweis gestellt, die in den sozialen Medien des Landes große positive Beachtung fanden. In Verbindung mit der wachsenden Präsenz der russischen Marine im Weltozean, die durch die neu gebauten modernen Lenkflugkörperfregatten ermöglicht wird, erkennt Afrika die Präsenz Russlands als Exporteur politischer Stabilität.
Die Gefahren
Die größte Gefahr besteht natürlich darin, dass die Vereinigten Staaten, nachdem sie sich an die Idee der Unipolarität gewöhnt haben, kaum eine Herausforderung für ihren Einfluss auf den Kontinent annehmen werden. Manchmal hat diese Ablehnung der Realität komische Dimensionen, zum Beispiel, wenn Facebook Seiten verbietet, die sich angeblich in die afrikanische Politik “einmischen”. Diese Maßnahme spricht Bände über die Annahme der USA, dass der gesamte Kontinent “Eigentum” ist.
Aber es ist unwahrscheinlich, dass die US-Politik mit Facebook-Wutanfällen aufhört. Wir werden wahrscheinlich wieder Todesschwadronen, Paramilitärs, CIA-verbundene Dschihadisten und sogar US-amerikanische Unterstützung für Völkermord-Machthaber sehen, die als lokale Stellvertreter dienen werden, um den russischen und chinesischen Einfluss zurückzudrängen. Der beängstigendste Aspekt der gegenwärtigen US-Politik ist die Bereitschaft, ein Land zu destabilisieren und in einen Bürgerkrieg zu stürzen, wenn es so aussieht, als ob es aus dem westlichen Orbit in einen russischen und einen chinesischen ausbrechen könnte.
Es ist noch schwer vorherzusagen, wie sich die zukünftigen Proxy-Kriege entwickeln werden. Die Erfolgsbilanz der USA in anderen Regionen lässt jedoch darauf schließen, dass nicht nur ihre verdeckten Handlungsinstrumente zur Erreichung der außenpolitischen Ziele der USA ineffektiv sind, sondern dass der Ruf der USA als vertrauenswürdiger internationaler Akteur so stark geschwächt ist, dass es wahrscheinlich zu einem erheblichen Nachteil kommt, wenn sie die Anwerbung von Vertretern auf dem afrikanischen Kontinent versuchen. Die Alternative wäre, wie im Fall von Syrien, die direkte Entsendung von US-Streitkräften in den Kampf, um eine politische Niederlage abzuwehren. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob eine solche Maßnahme in Washington oder in der Öffentlichkeit der USA politische Unterstützung finden würde.